Teil 3 - Der NS-Staat und seine Erziehungspropaganda
Als ich 2007 anfing, mich konkret damit zu beschäftigen, wo die ganzen abstrusen Säuglingspflege-Regeln her kommen, die mir als Stillberaterin begegneten, las ich natürlich auch das Buch von Sigrid Chamberlain über Johanna Haarer. "Prima," dachte ich, "da steht ja alles drin, was ich über Johanna Haarer wissen muss. Dann kann ich mich ja auf andere Zeiten und andere Werke konzentrieren."
Alle Säuglingspflegebücher aus der NS-Zeit, die mir in die Finger gerieten, schienen im Vergleich mit Chamberlains Beschreibung genauso schlimm zu sein, wie das von Johanna Haarer. Mir wurde schnell klar, dass ihr Buch nur eines von vielen war. Eines, das die Eltern kaufen mussten, wohingegen andere Bücher in ähnlich großer Auflage vom NS-Staat kostenlos an die Eltern oder Frischvermählten verteilt wurden.
Vor vier Jahren konnte ich dann zum ersten Mal einen Blick in die Erstausgabe von "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von 1934 werfen. Mir fiel direkt auf, dass Schwangerschaft und Geburt, sowie Rezepte und Nähanleitungen einen großen Teil des Buches ausmachten. Das war anders als bei den Büchern, die ich kannte. Diese konzentrierten sich auf Säuglingspflege und Erziehung. Vor etwa einem halben Jahr dann hat ein Leser mir denkenswerterweise die Ausgabe von 1938 gespendet.
Mein erster Gedanke beim Lesen dieses berühmt-berüchtigten Werkes war: "Das ist alles? Darüber die ganze Aufregung?" Die schlimmen Stellen, die Chamberlain so hervorgehoben hatte, musste ich regelrecht suchen. Noch mehr: ich las Dinge in dem Buch, die geradezu eine Beschwichtigung waren. Trösten der Mutter, wenn es nicht so funktionierte, wie es sollte. Verständnis für ihre Gefühle. Geduld mit dem Kind. Es drängte sich mir die Frage auf, ob Chamberlain selektiv und ohne Einordnung in den Kontext aus Haarers Buch zitiert hatte, um ihren Ausführungen über NS-Erziehung im allgemeinen mehr Nachdruck zu verleihen.
Dass wir uns nicht falsch verstehen: Johanna Haarer war eine Vertreterin der Schwarzen Pädagogik. Darin besteht kein Zweifel. Sie hat ihren Teil dazu beigetragen, die Schwarze Pädagogik zu verbreiten. Doch wie groß war ihr Anteil? Mit Sicherheit nicht annähernd so groß, wie es bei Chamberlain den Eindruck macht.
Wenn wir herausfinden wollen, welche Rolle Johanna Haarer im Dritten Reich gespielt hat, müssen wir uns mit einer Reihe an Fragen beschäftigen. Es genügt vor allem nicht, ihr Werk gesondert zu betrachten, wie es meistens getan wird. Wir müssen uns auch mit anderen zeitgenössischen Werken befassen. Wir müssen herausfinden, welche Auflagen die Werke hatten, wie sie vertrieben wurden, wer die Autor'innen waren. Die NS-Zeit war eine Hochzeit für derartige Ratgeber. Nur im Kaiserreich hatte es mehr Neuerscheinungen gegeben. Dann müssen wir natürlich noch inhaltliche Vergleiche herstellen. Hier also ein paar Beispiele für typische Ratgeber aus dieser Zeit.
Das Kind / Der Mutter Glück, der Mutter Sorge
Untertitel: Ratschläge über die Pflege, Ernährung und Erziehung des Säuglings, des Kleinkindes, des Schulkindes und des Jugendlichen
Dr. Karl Planner-Wildinghof (1876-1959), Kinderarzt aus Graz [Quelle]
Leopold Stocher Verlag, Graz und Leipzig.
1. Auflage 1910
3. Auflage 1943
Planner-Wildinghofs Buch ist genau so, wie ich mir Haarers vorgestellt habe. Die folgenden Zitate stammen aus der 3. Auflage.
Er fordert unerbittliche Härte in der Erziehung.
"Gute Erziehung ist hart, Liebe und Härte sind ehrliche Freunde. Wenn ihr euer Kind liebt, so seid, wenn es nottut, hart; und es tut oft not - das liegt schon einmal so im Leben. Liebe und Härte - Härte und Liebe - der beste Wahlspruch für den Erzieher.", S.147
Dass er gegen Prügelstrafe ist, heißt nicht, dass er gegen Gewalt ist.
"Mit der Prügelstrafe nichts zu tun haben die in einem früheren Abschnitte erwähnten, in aller Ruhe durchgeführten Klapse auf die Sitzteile, ein Mittel, das mitunter bei der Erziehung des Kleinkindes(des Kindes nach dem Säulingsalter) notwendig ist.", S.146
Die Bestimmung der Frau ist das Muttersein.
"Auch gehört zum Kinde nicht die Gouvernante, sondern die Mutter. Und die Frau erreicht ihre höchste Würde als Mutter und Erzieherin ihrer Kinder." S.112
Mit dem Baby soll die Mutter sich nur zur Pflege abgeben, ansonsten hat es still im Bettchen zu liegen.
"Wer ein ruhiges und braves Kind haben will, muß dasselbe vom ersten Lebenstage an erziehen. Wer diesen Rat nicht befolgt, wird sich seinen Liebling zum Tyrannen machen, der während einer Krankheit die Mutter zur Verzweiflung bringt. Und es verlangt diese Erziehung in den ersten Monaten nichts Besonderes; wer sein Kind ruhig im Bettchen sich selbst überläßt, es nur zur Mahlzeit, die nicht bei jedem Schrei (es ist ein Unfug, jedes Schreien des Säuglings als Hunger und als Verlangen nach Nahrung zu deuten), sondern erst nach der entsprechenden Pause gereicht wird, oder zum Trockenlegen herausnimmt, das viele Sprechen mit demselben, das beliebte ständige Herumtragen, Wiegen, Fahren, grelle Geräusche und Lärm vermeidet, es weder zur Nahrungsaufnahme noch aus sonst einem Grunde weckt, tut das Richtige. Ein einmal verzogenes Kind ist schwer zurechtzubringen." S.28f
Dem nichtgestillten Kind wird kein Körperkontakt gegönnt.
"Die Flasche reicht man dem im Wagen oder Bettchen liegenden Kinde; solange das Kind trinkt, muß die Flasche von der Warteperson gehalten werden. Ältere Säuglinge halten oft mit großem Geschicke die Flasche auch selbst." S.93
Kinder - Glück und Sorge der Mutter
Untertitel: Von Kindererziehung und Kinderkrankheiten
Dr. med. Luise von Seht (1877-1954), Fachärztin für Kinderkrankheiten [Quelle]
Verlag Ernst Reinhardt, München
1. Auflage 1939
2. verbesserte Auflage 1948
Die Ähnlichkeit des Titels zu dem von Planner-Wildinghof ist auffallend. Wir sehen hier, dass der Blick aufs Kind geprägt davon war, dass es nicht so funktionierte, wie es sollte. Nur Scherereien hat man mit den kleinen Tyrannen! Denn auch für von Seht sind Babys potentielle Tyrannen. Sie benutzt dieses Wort mehrfach auf den 106 Seiten ihres Buches, von dem sich die Hälfte mit der Erklärung typischer Krankheiten im Kindesalter beschäftigt. Die Zitate stammen aus der ersten Auflage.
Freut sich das Kind über den Anblick der Mutter, war sein Weinen grundlos.
"Das Hinzutreten der besorgten Mutter oder einer anderen Pflegeperson löst dann sofort ein befriedigtes Lächeln aus. Der beste Beweis dafür, daß er es nur darauf abgesehen hatte, seinen kleinen Willen durchzusetzen und unterhalten zu werden. Aus diesem Benehmen geht deutlich hervor, daß sich die Mutter nicht mehr als nötig mit ihrem Kleinsten beschäftigen und keine allzugroße Willfährigkeit seinen Wünschen gegenüber aufkommen lassen soll. Und wenn es ihr auch manchmal schwer fallen sollte, dem oft recht gebieterischen Geschrei des kleinen Tyrannen nicht nachzugeben, wird sie sich bald davon überzeugen können, daß ihr Verhalten richtig war. Das Kind sieht schließlich das Erfolglose seiner Bemühungen ein, wird ruhig und gibt sich dann auch zufrieden, ohne daß man ihm Gesellschaft leistet.", S.22f
Eltern haben nicht genug Distanz zu ihren Kindern.
"Die Aufgabe, ein Kind zu erziehen, wird von den Eltern nur selten vollkommen gelöst. Und zwar in erster Linie deswegen, weil Vater und Mutter naturgemäß ihrem eigenen Fleisch und Blut gegenüber nicht die für eine Erziehungsaufgabe nötige objektive Einstellung besitzen. Ihnen fehlt in vielen Fällen der klare Blick für die Schwächen, oft aber auch für die Vorzüge ihrer Kinder. Witerhin wird durch den Mangel an Distanz, der sich fast immer als Folge ständigen Beisammenseins zwischen den einzelnen Familienmitgliedern entwickelt, die Autorität der Eltern gewöhnlich derart geschwächt, daß ihre Anordnungen einfach überhört und nicht befolgt werden.", S.22
Schlaf muss reguliert werden.
"Vielfach begehen Mütter den Fehler, daß sie den Säugling oder das Kleinkind tagsüber zu lange schlafen lassen, so daß der kleine Quälgeist dann nachts, ausgeruht und voller Übermut, seine Mätzchen macht." S. 54
Der deutschen Mutter
Untertitel: Ein Ratgeber für alle Fragen der werdenden Mutter, der Geburt, der Geburtshilfe und der Säuglingspflege
Hanns Sylvester Stürgkh
Sonderschrift der Zeitschrift "Gesundes Volk", herausgegeben von Dr. Schäffer, Präsident des Reichsversicherungsamtes, Dr. med. Bochhacker, Hauptstellenleiter im Hauptamt für Volksgesundheit der Reichsleitung der NSDAP und Leiter des Amts für Volksgesundheit der DAF, Prof. Dr. med. Schnell, Stadtmedizinalrat in Halle a.S., Dr. med. Bause, Chefarzt des Kurkrankenhauses Deisterhort.
W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart und Berlin
1. Auflage 1936
überarbeitete 25. Auflage 1940, bis hier 500.000 Exemplare
letzte Auflage 1942
Über den Autor ist nicht viel herauszufinden. Möglicherweise handelt es sich um ein Pseudonym. Stürgkh hat 1936 die Drehbücher zu vier Kurzfilmen geschrieben, drei davon von und mit Theo Lingen über Baron Münchhausen. Stürgkh schrieb auch "Die Mutter und ihr krankes Kind", ebenfalls eine Sonderschrift der Zeitschrift „Gesundes Volk“, verlegt von 1938-1942. Sonst ist nicht über ihn bekannt.
Der Name des Autors steht nur im Innenteil des Buches. Er ist nicht wichtig. Das Buch ist echte Nazi-Propaganda und da tut der Autorenname nichts zur Sache. Es geht um das Volk und die Rolle der Mutter.
Diese Sonderschrift wurde kostenlos von den Krankenkassen verteilt. Die Zitate stammen aus der 25. Auflage.
"Das, nur das ist Glück, uneingeschränktes, wahres Glück, weil es Lebenserfüllung ist: Paarung, Zeugung, Fortpflanzung!
Dann erst, deutsche Frau, wirst Du wirklich im Kreislauf des Lebens stehen, im Bündnis mit höhreren und größeren Mächten, mit dem Schöpfer und Betreuer aller Dinge" S.9
Ihrer nationalen Zugehörigkeit soll die Mutter sich immer bewusst sein.
"Stark und stolz gehe die werdende Mutter ihren Weg, froh und in fester Haltung trage sie ihre Pflicht.
Das ist deutsch." S.16
Chamberlain schreibt: "Folgt man Haarer, dann wird das gesunde Neugeborene, sobald es abgenabelt ist, in ein Tuch gehüllt, 'zur Seite gelegt' und später, nachdem die Mutter 'versorgt' ist, gebadet und angezogen". Stürgkh beschreibt es genauso.
"Mit kräftigem Geschrei protestiert das Kind gegen das Licht der Welt, und damit beginnt zugleich die eigene Atmung: das Kind ist selbständig! Dieser Tatsache beugt sich der Mensch: die Hebamme entbindet das Kind von der Mutter durch die Durchtrennung der Nabelschnur, deren Rest etwa nach vier bis acht Tagen abfällt. Nun wird das Kind vorerst warm eingehüllt beiseite gelegt - noch gelten alle Mühen der Mutter, die jetzt noch schwammige Blutgefäße, die sogenannte Nachgeburt, auszustoßen hat." S.24
Das Stillen unterliegt von Geburt an strengen Regeln.
"Folgende Grundsätze präge sich die Mutter fest ein:
1. Das Kind erhält in der Regel fünfmal je Tag (alle vier Stunden) die Brust (...)
2. Man stillt nicht ohne Uhr. (...)
3. Das Kind erhält zu jeder Mahlzeit möglichst nur eine Brust. (...)
4. Das Kind wird nie zur Nachtzeit gestillt, auch nicht wenn es schreien sollte. Dies gilt ohne Ausnahme!
Diese vier Grundsätze sind sowohl gesundheitlich für Mutter und Kind, als auch erzieherisch für das Kind möglichst strikte zu befolgen. Je beharrlicher man sie einhalten kann, desto besser wird sich das Kind zum Nutzen beider Teile daran gewöhnen." S.33f
Natürlich ist auch für Stürgkh das Kind ein Tyrann.
"Im übrigen verwöhne die Mutter ihr Kind nicht zu sehr, indem sie regelmäßig auch dann zur Stelle ist, wenn das Kind alle paar Minuten schreit, weil es lediglisch beschäftigt und umhergetragen zu werden wünscht. Dann muß sich die Mutter bei dem kleinen Tyrannen energisch durchsetzten: dann fort mit ihm in das entlegenste Zimmer und - scheien lassen! Bald merkt das Kind, daß es seinen Willen (jawohl: es hat schon Willen!) nicht durchsetzen kann und wird artig sein." S.57f
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Der gesunde Säugling
Untertitel: Seine Entwicklung Ernährung Pflege
Dr. Philipp Niemes (1892-?), Kinderarzt [Quelle für Geburtsjahr]
Alwin Fröhlich Verlag, Leipzig
1. Auflage 1933
Das Vorwort sagt schon alles, was über dieses Büchlein zu wissen ist:
"Die Führer des neuen Deutschland fordern die Rückführung der Frau zu ihrer wesensechten Bestimmung, zum Gedanken der Mütterlichkeit. Sie fordern, daß die weibliche Jugend reif gemacht werden, selbst wieder eine neue Jugend heranzuziehen, die gesund ist an Körper und Geist.
Um hierzu befähigt zu sein, muß die Mutter wie die Säuglings- und Kinderpflegerin sich die nötigen Kenntnisse in der Behandlung eines Kindes aneignen. Trotz der Vielheit vorliegender Bücher, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigen, hat der Verlag vorliegendes Büchlein vorbereiten lassen, das in leicht faßlicher Form den Müttern und Pflegerinnen auf auftauchende Fragen Antwort geben, ein kleines Hilfsmittel für Unterricht und Ausbildung sein und ermöglichen soll, Erlerntes wieder aufzufrischen.
Die Frage- und Antwortform wurde gewählt, um ein leichtes überlesen des Inhaltes zu vermeiden, um den Lesenden zum Nachdenken und tieferen Erfassen des Stoffes zu erziehen und so jederzeit folgerichtiges Entscheiden und Handeln vorzubereiten.
Das Büchlein ist aus unterrichtlicher und praktischer Tätigkeit entstanden um Anschluß an den im Verlage des Säuglingsheimes an der Kapellenstraße in Augsburg erschienenen Lehrgang der Säuglings- und Kleinkinderkunde."
Dennoch ist dieses Buch keine NS-Propaganda im eigentlichen Sinn. Der Staat und seine Absichten werden nach dem Vorwort nicht mehr erwähnt. Ebenso fehlen Hinweise auf die "Bestimmung der Frau zur Mutterschaft" u.ä.
Auch für Niemes beginnt die Erziehung und das Regulieren der Mahlzeiten am ersten Lebenstag.
"27. Wann soll die Erziehung des Säuglings einsetzen?
A.: Sofort mit dem ersten Lebenstage.
28. Womit beginnt die Erziehung?
A.: Mit der Gewöhnung an die Zeitordnung. Innehalten der Nähr- und Pflegeordnung erzieht zur Beherrschung des Willens. Innehalten der Nahrungsmengen erzieht zur Mäßigkeit." S.24
Ungewöhnlich ist, dass Niemes sich auf die Autorität der Väter beruft, um nächtliches Schreienlassen durchzusetzen. Väter werden selten in Ratgebern dieser Zeit erwähnt. Sie waren längst aus der Erziehung verdrängt worden.
"Die Nachtruhe ist wichtig für Mutter und Kind. Sie muß streng eingehalten werden, damit sich beide erholen können.
Besonders wichtig ist, daß das Kind, selbst wenn es schreit, nachts nicht angelegt wird. Denn gerade dann kommt es meist zur Überfütterung und dadurch bedingten Krankheiten. Das Kind schreit, wenn es sonst gesund ist, höchstens zwei oder drei Nächte durch. Dann gewöhntes sich an die Nachtruhe zum Vorteil für sich selbst, für die Mutter und die ganze Umgebung! (Dies besonders auch den Vätern zur Kenntnis!) " S.39
Wie Planner-Wildinghof lässt auch Niemes dem Säugling die Flasche geben, während dieser im Bettchen liegt.
"50. Wie gibt man die Flasche?
A.: Das Kind bringt man am besten in Halbseitenlage. Die Flasche wird während des Trinkens am unteren Ende gehalten. Die Neigung der Flasche muß dabei so sein, daß der Flaschenhals stets voll mit Nahrung ist. Nicht zu steil, damit nicht zuviel Nahrung nachfließt, nicht zu flach, damit das Kind keine Luft mitschluckt." S.57
Selbstbeherrschung ist wie bei allen zeitgenössischen Autor'innen ein großes Thema.
"Beginnt das Kind umherzukriechen, ist der Laufstall zu empfehlen, wenn nicht die Bettstelle für diesen Zweck eingerichtet werden kann. Das Kind ist im Laufstall gut aufgehoben, kann sich an den Stäbchen aufrichten, lernt darin gehen, ohne sich überall hinbewegen zu können, so daß es gleichzeitig auch zur Selbstbeherrschung erzogen wird." S.63
Der Arzt als Erzieher des Kindes
Prof. Adalbert Czerny (1863-1941), Kinderarzt und Hochschullehrer in Berlin
Es handelt sich um eine Sammlung an Vorlesungen
1. Auflage 1908
11. unveränderte Auflage 1946
Nach der Lektüre dieses Buches muß ich zu dem Schluß kommen: Czerny war ein Menschenfeind. Seine abfälligen Beschreibungen insbesondere von Frauen und Kindern, aber auch allem Nicht-deutschen sind beklemmend zu lesen. Obwohl die erste Auflage schon 1908 erschien, passt sie perfekt in die NS-Zeit. Daher ist es kein Wunder, dass sie hier mehrere Auflagen erfuhr. Die Seitenzahlen der Zitate beziehen sich auf die 11. Auflage; der Inhalt ist identisch zwischen allen Auflagen.
Aus dem Vorwort zur 8. Auflage 1934: „Die Vorlesungen hatten den Zweck, die Ärzte aufmerksam zu machen, daß es ihre Aufgabe ist, sich mit der Erziehung der Kinder zu befassen. Die Aufgabe ist gegenwärtig erfüllt.“
Selbstverständlich propagiert auch Czerny feste Zeiten bei der Ernährung.
"Die erste wichtige Erziehungsmaßregel ist die Gewöhnung an eine Zeitordnung. Zu dieser gibt die Ernährung die geeignete Veranlassung. Bei jedem Kinde ist die Anpassung an strikte Nachtpausen nach Wunsch zu erreichen. Bei unruhigen Kindern setzt dies allerdings eine gewisse Energie der Pflege voraus. Bei der Durchführung der Nahrungspausen handelt es sich also nicht bloß um eine für die Ernährung wichtige Maßregel, sondern tatsächlich um die erste Erziehung zur Beherrschung der Triebe." S.25
Sein Nationalismus kommt beispielsweise bei seiner Ablehnung von Zweisprachigkeit zum Ausdruck.
"Die Erziehung eines Kindes in einer Sprache hat außerdem noch den Vorteil, daß dadurch zeitig sein Nationalbewußtsein geweckt wird. Die meisten Überläufer von einer Nation zur anderen beobachtet man dort, wo von Anfang an die Kinder an zwei Sprachen gleichmäßig gewöhnt werden. Solchen Kindern fehlt der Begriff der Muttersprache, weil sie von der Mutter stets zwei Sprachen gehört haben." S.33f
Er hielt körperliche Strafen für unverzichtbar.
"Wer sich nicht gleich dazu entschließen kann, ein Kind zu strafen, um es zum Gehorsam zu bringen, der wird oft dazu gezwungen, wenn er die Methode der Belohnung erschöpft hat. Dies ist bereits die Korrektur eines Erziehungsfehlers, der vermieden werden sollte. Die Strafmittel, über die wir für Kinder der ersten Lebensjahre verfügen, bestehen entweder in der Ablehnung eines Wunsches oder einer Bitte der Kindes oder in der körperlichen Züchtigung. Die ersteren Strafen sind für alle Kinder anwendbar, und es verrät immer ein vollständiges Verkennen der wichtigsten Erziehungsmaßregeln oder eine pathologische Willensschwäche von seiten der Eltern oder Erzieher, wenn von ihnen kein Gebrauch gemacht wird. Keinem Beobachter kann es entgehen, daß es aber auch Kinder gibt, welche damit allein nicht zum Gehorsam und zur Subordination zu bringen sind. Für diese ist und bleibt die körperliche Strafe als Erziehungsmittel untentbehrlich. Sie soll als die strengste Strafe aufgefaßt und deshalb nur relativ selten in Anwendung gezogen werden. Der Effekt der körperlichen Strafe wird nur dann erreicht, wenn sie mit einer tatsächlichen Schmerzempfindung verknüpft ist." S.39f
Kinder sollten nicht „nutzlos“ spielen.
"Ich verweise hier absichtlich auf die Kindergärten nach Fröbelschem System. Das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Kinder im Montessori-Kindergarten kann ich für geistig normale Kinder nicht als zweckmäßig anerkennen." S.41
"Wenn ein Kind beispielsweise Bausteine einer Vorlage entsprechend aufbauen soll, so wird es veranlaßt, diese Vorlage genau zu betrachten. Dadurch wird das Spielen mit den Bausteinen zu einem Unterrichtsmittel. Überläßt man dem Kinde die Bausteine, so daß es mit denselben machen kann, was es will, so lernt es nichts anderes, als mit nutzlosem Spiel die Zeit zu verbringen." S.44
Er zweifelt die Existenz von Hospitalismus an und hält ihn vielmehr für eine gute Erziehung.
"Bedeutende Ärzte, wie z. b. Parrot, haben aus ihren Erfahrungen in Findelhäusern und Kinderkrankenanstalten geschlossen, daß die Entwicklung der Kinder daselbt zu wünschen übrig lasse, weil den Kindern die richtige und zweckmäßige Anregung durch die Umgebung fehlt. Dies läßt sich tatsächlich nicht in Abrede stellen, aber es ist in keiner Weise erwiesen, daß den Kindern Nachteile durch den Mangel an psychischer Anregung erwachsen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß dieselben in anderen Umständen der Hospitalpflege zu suchen sind. Die Erfahrungen in Säuglingshospitälern sind aber dadurch wertvoll, daß man in diesen Anstalten sehen und lernen kann, wie weit sich sie Säuglinge durch Erziehung beeinflussen lassen. In der Privatpraxis hört man von Kindern, bei denen die Durchführung einer bestimmten Ernährung nicht erreichbar ist, denen eine vom Arzt verordnete Nahrung nicht beizubringen ist, welche nicht liegen, sondern permanent getragen sein wollen, von Kindern, welche sich vor Männern fürchten oder umgekehrt vor jeder Frau mit Ausnahme der Pflegerin u. dgl. m. Solche Beobachtungen fehlen dem Anstaltsarzt, auch wenn er über das größere Beobachtungsmaterial verfügt. Sie fehlen, weil sie unter dem Einflusse der Anstaltserziehung nicht vorkommen." S.5f
Mit anderen Worten ist für Czerny ein vernachlässigtes, willenloses Kind ein gut erzogenes Kind. Diese Ansicht zieht sich durch das gesamte Buch.
Säuglingspflegefibel
Antonie Zerwer (1873-1956), Kinderkrankenschwester und Ordensschwester am Kaiserin Auguste Victoria Haus, Berlin
Verlag von Julius Springer
1. Auflage 1912
9. Auflage 1933 (bis hier 413.000 Exemplare)
10. Auflage 1940
wurde in acht Sprachen übersetzt und soll sich über 2 Millionen mal verkauft haben. (Hier habe ich schon einmal zwei Ausgaben verglichen)
Dieses Büchlein ist zwar kein Erziehungsratgeber für Eltern, aber es ist dennoch wichtig zu erwähnen. Es handelt sich hierbei nämlich um ein Schulbuch für Mädchen von 10-16 Jahren, denen so schon lange vor ihrer eigenen Mutterschaft die strengen Regeln der festen Mahlzeiten und der peniblen Sauberkeit, welche auch Haarer und Co forderten, verinnerlichten. Die Zitate stammen aus der 9. Auflage.
"Wie können wir Kinder solchen kleinen Menschen schon einen Dienst erweisen?
Wie ihr die Blumen im Zimmer und im Garten hegt und pflegt, wir ihr unsern Haustieren eure Fürsorge in mancherlei Art zuwendet, so könnt ihr auch dem kleinen hildlosen Menschenkinde dienen. Die Hauptsache aber ist, daß ihr's richtig anfang, sonst hönnt ihr dem kleinen Menschen mehr schaden als nützen." S.9
Hinweis: einer der Leitsprüche der Nazis war "Wer herrschen will, muss dienen lernen."
"Was müssen wir zuerst tun, ehe wir einen Säugling anfassen?
Eure Hände mit warmem Wasser und Seife waschen und bürsten und die Nägel vom 'Giftrand' befreien." S.11
"Wie oft legen wir ein Kind trocken?
Für gewöhnlich vor jeder Mahlzeit. Ist das Kind wund oder unruhig, so kann es auch außer dieser Zeit trockengelegt werden. Ihr müßt versuchen, es möglichst bald an Sauberkeit zu gewöhnen, etwa mit 6-8 Monaten. Es darf euch aber nicht verdrießlich werden, das Kind zu bestimmten Zeiten abzuhalten oder aufs Töpfchen zu setzen." S.12f
Die Stillregeln werden vorgegeben.
"Woraus besteht die Nahrung des Säuglings?
Am besten bekommt ihm die natürliche Nahrung, die Muttermilch. Die vorsorgliche Natur hat sie jeder Mutter mitgegeben. In ihr sind alle Bestandteile enthalten, welche der kindliche Organismus zu seinem Aufbau bedarf.
Wie oft nährt die Mutter das kleine Kind?
5-6mal am Tag, alle 3-4 Stunden; nachts bekommt das Kind nichts. Länger als 20 Minuten soll das Kind nicht bei der Mutter trinken. Die genossene Milchmenge läßt sich durch Wägen des Kindes vor und nach der Mahlzeit feststellen." S.40
Schreienlassen wird auch propagiert.
"Was tun wir, wenn ein Kind schreit?
Ihr seht nach, ob es naß ist, ob es unbequem liegt oder zu warm bedeckt ist. Wenn es trotz aller Beruhigung weiterschreit, dann laßt ihr es schreien. Schreien ohne Grund schadet dem Kinde nichts. Es ist sogar recht gesund für seine Lungen. Doch wenn ein Kind, das sonst ruhig war, die ganze Nacht durch schreit und dauernd unruhig bleibt, muß der Arzt gefragt werden.
Wenn es sehr warm ist, schreit das Kind manchmal auch aus Durst, dann darf es etwas abgekochtes Wasser oder dünnen, leicht gesüßten Tee teelöffelweise zwischen den Mahlzeiten bekommen." S.49
Die späteren Ausgaben der Fibel enthalten neben den Fragen und Antworten auch Aufgaben für die Schülerinnen.
Kommen wir zurück zu Johanna Haarer.
Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind
Dr. Johanna Haarer (1900-1988), Lungenfachärztin
1. Auflage 1934
bis Kriegsende ca 680.000 verkaufte Exemplare
letzte Auflage 1987
Das Buch wurde als Lehrbuch für Mütterschulungskurse und in Berufs- und Fachschulen für Kinderpflegerinnen, Kindergärtnerinnen und Jugendleiterinnenverwendet. [Quelle]
An Johanna Haarers Gesinnung besteht kein Zweifel. Sie hat sich bis zu ihrem Tod nicht davon distanziert. Alle Zitate stammen aus der Auflage von 1938, auf die sich auch Sigrid Chamberlain bezieht.
"Eine ungeheure weltanschauliche Wandlung vollzieht sich zur Zeit in unserem Volk. Neue Pflichten, neue Verantwortung warten auf jeden.
Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken." S.8
Ein häufig zitierter Part aus Haarers Buch ist "dann, liebe Mutter, werde hart!" Es geht dabei darum, dass Kind schreien zu lassen. Meist wird das Zitat genutzt, um zu zeigen, wie gnadenlos Haarer in ihrer Sprache war. Was dabei außer Acht gelassen wird, sind die Beruhigungsversuche, die dem vorhergehen, sowie die Beschwichtigung, die später folgt. Ähnliches fehlt in allen bisher aufgeführten Werken völlig. Keine'r der anderen Autor'innen äußert jemals Verständnis für die Gefühle der Mutter.
"Der häufigste Anlaß, weshalb sich besorgte Mütter und Großmütter immer wieder mit dem Kinde befassen, ist das Schreien.
Das Geschrei des jungen Säuglings ist für das Ehepaar, dem das erste Kind geboren wurde, und für den ganzen Hausstandd etwas durchaus Neues. Es beunruhigt die Eltern nicht wenig und häufig ganz grundlos. "Dem Kinde muß doch etwas fehlen!" Es kostet Nachtruhe und Nervenkraft, nicht nur des Elternpaares, sondern auch der Nachbarn. "Dort läßt man das Kind schreien", wird vorwurfsvoll gesagt mit dem Unterton als hätten die Eltern kein Herz für ihr Kind. Und welche Eltern sind gegen einen solchen Vorwurf wohl unempfindlich?
Am allermeisten setzt das Schreien natürlich der Mutter zu, die, es muß immer wieder gesagt werden, nach der Entbindung doch nur langsam ihre früheren Kräfte und ihre gewohnte seelische Verfassung wiedergewinnt. (...)
So zahlreich und vielfältig die Ursachen sind, die ein Kind zum Schreien veranlasen, so wird macnhe Mutter nach sorgfältiger Prüfung erklären müssen, daß es sich um keine von allen handelt. Das Kind schreit eben, und gar nicht wenig - warum aber, ist unerfindlich. (...) Es bleibt oft nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es aus Anlage, Gewohnheit oder geradezu zum Zeitvertreib schreit.
Was in aller Welt ist da zu tun? Die Mutter, die mit Ernährung und Pflege ihre Pflilcht tut, nehme vor allem die Sache nicht allzu tragisch. Man greift in solch einem Fall, so wenig "modern" es auch ist, hin und wieder eben doch zum Schnuller. (...)
Der Schnuller stoppt in vielen Fällen das Schreien sofort. Er hat außerdem den Vorteil, das Fingerlutschen zu verhindern. (...)
Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, daß es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird - und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.
(...)
Sollte es aber auf keine Weise gelingen, ungestörte Nächte zu erzielen, so bleibt dir, liebe Mutter, doch ein Trost: Je älter das Kind wird, desto weniger schreit es. Eines Nachts wird es plötzlich durchschlafen, wenn du es nur nicht gar zu sehr verwöhnt hast. Denn so leicht in der Theorie das Gebot der 8stündigen Nachtruhe aufzustellen ist, so schwer ist es mitunter, im Privathaushalt zum Ziele zu kommen." S.161ff
Die Stillregeln, die Haarer aufstellt, entsprechen ihrer Zeit. Sie fügt allerdings noch einen Punkt fürs Bäucherchen hinzu.
"Für das Stillen des voll entwickelten, gesunden Neigeborenen ist die genaue Beachtung folgender Grundregeln unerläßlich:
I. Das Kind bekommt zu jeder Mahlzeit nur eine Brust, (...)
II. Das Kind soll nie länger als 20 Minuten trinken. Man stille daher nie ohne Uhr. (...)
III. Zwischen den Stillmahlzeiten müssen unter allen Umständen regelmäßige und ausreichende Pausen eingehalten werden. Diese Pauseen betragen 3, wenn möglich und besonders beim älteren Säugling 4 Stunden. (...)
IV. Alle Tage wird zu denselben Zeiten gestillt.
V. Außerhalb der regelmäßigen Trinkzeiten gibt es keinen Grund, das Kind an die Brust zu nehmen! (...)
VI. Nach dem Stillen wird das Kind einige Augenblicke aufrecht gehalten." S.113f
Auch wenn Haarer hier mit Nachdruck auf die Nahrungspausen pocht, so schreibt sie doch später, dass bei Milchmangel zur Steigerung der Produktion häufiger angelegt werden soll. Auch dies ein Hinweis, der bei allen anderen Beispielen fehlt. Dort gibt es keine Ausnahmen, es sei denn der Arzt(!) hat sie angeordnet.
Das Füttern mit der Flasche findet auf dem Arm statt.
"Und nun können wir unser Kind füttern. Wir nehmen es so in den Arm, daß sein Köpfchen auf dem Unterarm der Mutter ruht, jedoch nicht herabhängt." S.186
Auch wenn Haarer das Baby im ersten Vierteljahr außerhalb der notwendigen pflegerischen Versorgung allein und "in Ruhe gelassen" sehen will, so ist ihr doch bewusst, dass das Kind die Nähe anderer Menschen braucht. Auch das ist ein Punkt, der bei anderen zeitgenössischen Büchern vergeblich gesucht wird.
"Das körperlich und geistig sich immer mehr entwickelnde Kind braucht einen gewissen Umgang mit Menschen, einen seelischen Widerhall für seine ersten Gefühlsregungen, wenn es nicht schwer in seiner Entwicklung leiden soll." S.248f
Papier ist geduldig
Wir sehen also, dass Haarers Ratgeber nur einer von vielen war. Hätte Sigrid Chamberlain nicht ein Buch über Johanna Haarer geschrieben, wäre ihr Name mit Sicherheit heute kaum bekannt. Auch wenn Haarers Werk extrem häufig verkauft und mitunter als Lehrbuch verwendet wurde, so stehen dem doch unzählige andere Bücher entgegen, von denen zumindest die Propaganda-Schriften ähnliche Auflagen erfuhren. Besonders wichtig ist, dass all dies gängige Lehrmeinung war. Wir haben es also Professor'innen, Ärzt'innen und Ausbilder'innen in der NS-Zeit zu tun, die genau diese Vorschriften lehrten und echte Lehrbücher schrieben. Diese wurden dann nicht nur in Mütterkursen, sondern eben in der Ausbildung für medizinisches Fachpersonal verwendet.
Es wird wohl niemand bestreiten, dass der Kinderarzt oder das Personal auf der Wöchnerinnenstation viel mehr Druck auf eine junge Mutter ausüben konnten, als ein Buch es je könnte. Selbst wenn dieses Buch von einer Ärztin geschrieben ist. Das Buch untermauert dann vielleicht die Anweisungen des Arztes, aber es hat nicht dieselbe Autorität.
Bleibt also die Frage, wie sehr sich Eltern an die Ratschläge und Regeln gehalten haben. Über Jahrzehnte hinweg von den Anfängen des Kaiserreichs bis in die NS-Zeit lesen wir zwischen den Zeilen der Ratgeber, dass es schwierig war, Mütter von den strengen Regeln zu überzeugen. Nicht nur Haarer fordert daher, dass die Mutter sich nicht von Verwandten in ihre "moderne Erziehung" reinreden lassen solle. Autor'innen zur NS-Zeit wussten, dass andere Mütter und insbesondere Großmütter die größten Hindernisse in der Verbreitung ihrer Erziehungsmethoden waren.
"Sobald mehrere Menschen sich mit dem Kind beschäftigen, ist die Regelmäßigkeit seines Tagesablaufes und die Einhaltung der nötigen Pflegegrundsätze nur zu leicht gefährdet. Es erheben sich alle möglichen Meinungsverschiedenheiten. Die Großmütter sind z. B. mit Vorlliebe der Meinung, das Kind sei nicht warm genug angezogen, es bekomme zu wenig und zu selten zu essen, in der Auswahl der Speisen ewrde seinem Geschmack zu wenig Rechnung getragen, und es bekomme überhaupt nicht die richtige Nahrung. Sie sehen es als Herzlosigkeit von seiten der Mutter an, wenn das Kind eine Zeitlang sich selbst überlassen ist, und reden häufig viel zuviel auf das Kind ein. Die Hausgehilfin wird, wenn sie kinderlieb ist, leicht ihre Arbeit vernachlässigen, um mit dem Kinde zu tändeln." Haarer, S.249
Auch in der Propaganda-Schrift von Stürgkh finden sich Seitenhiebe auf Großmütter und andere umsorgende Verwandte.
"Schon der Säugling merkt genau, wieviel er durch Geschrei erreichen und ertrotzen kann, und gelingt es ihm einmal, so wird er dies regelmäßig zu erreichen suchen und dabei den Nachdruck seines Drängens ständig steigern. Gibt nun die Mutter leicht nach, so wird der Säugling später als Kleinkind, erst recht alle Register ziehen, unermüdliches Bitten und die ganze Reihe seiner Mittel hinauf bis zum eigensinnigsten Bocken, um einen abgeschlagenen Wunsch doch durchzusetzen und ein elterliches 'Nein' in ein 'Ja' umzuwandeln. Es besteht durchaus die Gefahr, daß ein solches Kind endlich eine recht unerwünschte Herrschaft über die Eltern ausübt, mitunter sogar offensichtlich und tyrannisch. Und diese Gefahr wird um so größer sein, je weniger sich Vater und Mutter, Onkel und Tanten und vor allem die lieben Großmütter vor allzu reichlichen Zärtlichkeiten warnen lassen. Alle jene Übertreibungen nämlich, die mit wahrer Kindesliebe gar nichts zu tun haben, die kindische Nachäffung der kindlichen Sprache und das ewige Abküssen und Betätscheln zuerst des Säuglings und später des Kleinkindes, wie man es mitunter findet, sind erzieherisch und gesundheitlich grobe Fehler." Stürgkh, S.63
Bei Czerny wird klar, dass er weichherzige Menschen als die Feinde der "modernen" Erziehung sieht.
"Alte Kinderfrauen erfreuen sich bei Ärzten keiner Beliebtheit, weil sie als unbelehrbar gelten." Czerny S.16
"Die meisten Erziehungsfehler betreffen das erstgeborene Kind, besonders, wenn es erst nach mehrjähriger Ehe zur Welt kommt. Noch mehr Erziehungsfehler kann man aber beobachten bei Erstgeborenen sehr alter Eltern oder bei Nachzüglern, welche nach einer Pause von 10 bis 20 Jahren folgen. Dagegen lehrt die Erfahrung, daß die Kinder am besten davonkommen, deren Eltern relativ jung sind. Ältere Menschen sind immer weichherziger, nachsichtiger gegen Kinder, und ihre Milde nimmt Formen an, welche sie zur Erziehung von Kindern ungeeignet machen. Aus diesem Grunde sind auch Großmütter und alte Tanten für Kinder, denen sie ihre Gunst zuwenden, oft kein Vorteil." Czerny, S.17
"Eine dieser Beobachtungen bezieht sich auf Mütter, noch mehr auf Großmütter. Rasch wird vergessen, wie ein Kind im ersten Jahre genährt wurde, wie es erzogen wurde, selbst dann, wenn sich dazu bei mehreren Kindern Gelegenheit fand. So kommt es, daß Großmütter sich in dem Glauben befinden, genaue Kenntnisse über Kinderpflege zu besitzen, ohne daß dies tatsächlich zutrifft. Es wäre oft wertvoll, wenn die Großmütter noch genau wüßten, wie sich ihre Kinder als Säuglinge verhalten haben. Denn an den Enkelkindern wiederholen sich manchmal gesetzmäßig alle Erscheinungen und Schwierigkeiten, welche schon bei den Eltern im Säuglingsalter vorhanden waren. Diesen Vorteil geben aber die Erinnerungen der Großmütter nur in der Minderzahl der Fälle ab, und zumeist führen ihre Erinnerungsdefekte nur zur Unzufriedenheit mit den Enkelkindern oder zu unhaltbaren Ratschlägen, welche selbst zweckmäßigen Anordnungen eines Arztes hindernd im Weg stehen.
Der ungünstige Einfluß, welchen Großmütter oder alte Eltern auf Säuglinge und nicht selten auch jüngere Eltern auf den Erstgeborenen ausüben, beruht darauf, daß sie die Kinder nicht erziehen, sondern sich selbst vollständig den Launen und Wünschen der Kinder unterziehen. Sie stehen auf dem Standpunkt, daß es ihre vornehmste Aufgabe ist, dem Kinde jeden Wunsch an den Augen abzusehen und denselben so schnell als möglich zu erfüllen und überdies noch alles zu tun, was ihnen für das Kind angenehm erscheint. Sie verlieren ihre Macht über die Kinder schon im ersten Lebensjahre derselben, und dies hat zur Folge, daß die Kinder schon im zweiten und dritten Lebensjahr das Haus terrorisieren." Czerny, S.18f
Auch wenn der "Kampf gegen die Großmütter" schon viel früher begonnen hatte, so erreichte er doch zur NS-Zeit seinen Höhepunkt. Nie wurde in Ratgebern mehr auf "zu zärtliche" Großmütter geschimpft, die Babys einfach nicht schreien lassen konnten.
"Möchten doch alle Mütter, vorzüglich aber alle Großmütter, doch endlich zur Einsicht gelangen, daß es gar keinen Zweck hat, ein schreiendes Kind durch Herumtragen zu beruhigen! Es hat dann ebensoviel Schmerzen, ebensoviel Hunger, ebensoviel Durst und wird nebenbei auch noch verzogen und das spätere Erziehen bereitet nur neue Unbequemlichkeiten, die sich und ihrem Kinde die Mutter von Anfang an leicht ersparen konnte." S.112
Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883
Dass gerade zur NS-Zeit ganz besonders viel auf "zu zärtliche Mütter" und Großmütter geschimpft wurde, deutet darauf hin, dass sich die Schwarze Pädagogik nicht so breit durchgesetzen konnte, wie von den Autor'innen gewünscht.
Im Umkehrschluss heißt das allerdings nicht, dass Großmütter nicht selber in der Erziehung ihrer Kinder streng gewesen waren. Sie waren nur für die jeweils neue Generation nicht streng genug. Der Weg zur Schwarzen Pädagogik war ein gradueller und sie wurde nie flächendeckend erreicht. Vielmehr erzog die breite Masse der Eltern zur NS-Zeit ihre Kinder nach preußischen Grundregeln. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Baby mit einem halben Jahr "langsam an das Durchschlafen gewöhnt" oder vom ersten Tag an nachts nicht beachtet wird.
Denn Schwarze Pädagogik ist eine gezielte seelische Verkrüppelung, die gefügige, willenlose Kinder hervorbringt. So wie Czerny es beschrieb. (Ob das Absicht war und was damit bezweckt wurde, muss an anderer Stelle diskutiert werden.) Feste Stillzeiten, Schreienlassen und Erziehung zum Gehorsam allein machen noch keine Schwarze Pädagogik. Diese Elemente sind ebenso Grundlagen preußischer Erziehung, wie wir in Teil 2 gesehen haben. Der entscheidende Unterschied ist, mit welchen Methoden und welcher Strenge diese Grundlagen durchgesetzt werden. Preußische Eltern wollten keine gebrochenen Kinder. Sie wollten mit ihren Regeln vor allem gesunde Kinder heranziehen.
Zudem ist die Schwarze Pädagogik der NS-Zeit geprägt von einer Überhöhung der Mutterrolle, einer feindseligen Einstellung gegenüber dem Kind ("Tyrann") und vom Rassen-Denken. Typisch Nazi eben.
Schwarze Pädagogik verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg darum wieder aus der Ratgeberliteratur. Was sich hielt, waren die Preußischen Erziehungsmethoden. Darum konnten auch nur die milderen Säuglingspflege-Ratgeber nach 1945 weiter verlegt werden. Diejenigen, die mehr Deutungsspielraum boten. So wie der von Johanna Haarer.
In Lehrbüchern jedoch konnte die Schwarze Pädagogik sich noch halten.
Weitere Teile dieser Reihe:
Teil 1 - Wie Johanna Haarer heute wahrgenommen wird
Teil 2 - Vorläufer der schwarzen Pädagogik
Teil 3 - Der NS-Staat und seine Erziehungspropaganda
Teil 4 - "Die Mutter und ihr erstes Kind" und andere Nachkriegsratgeber