Ist ein Kinderwagen ein Möbelstück oder ein Fahrzeug? Sollten wir Kinderwägen auf dem Gehweg erlauben? Ist das Schieben eines Kinderwagens unter der Würde eines Königs?

1. Die Königin und der Kinderwagen

Der erste Kinderwagen wurde etwa 1840 in England erfunden. Dieser „Perambulator“ - von to perambulate, einen Spaziergang machen - war ein Stuhl mit drei Rädern, der von hinten geschoben werden konnte. 1846 kaufte Queen Victoria gleich drei solcher Wägen für ihre Kinder und machte sie dadurch zur Mode.

Um 1860 verpasste Albert Naether aus Zeitz in Sachsen diesem Perambulator vier Räder und einen Liegekorb. Erst dadurch entstand der Kinderwagen, wie wir ihn heute kennen. Es dauerte noch etwa 20 Jahre bis diese Art Kinderwagen in Großbritannien Verwendung fand.

Dennoch gilt Queen Victoria bis heute als Pionierin in Sachen Kinderwagen.

2. Zu stolz für den Kinderwagen

Reiche Eltern waren begeistert. Als Luxusartikel bot der Kinderwagen Möglichkeiten den eigenen Wohlstand zu präsentieren. Aber nicht, dass Eltern selber geschoben hätten. Nein, um die Kinder kümmerten sich Angestellte - die Wärterinnen. Diese fanden den Kinderwagen gar nicht so großartig wie die Eltern. So berichtet zum Beispiel Hermann Klencke in seinem Buch „Die Mutter als Erzieherin“ von 1869:

„So sehr es wünschenswerth ist, daß der Kinderwagen den Kindermantel der Wärterin ersetze, so giebt es doch noch vorurtheilsstarre oder zu nachsichtige Mütter, welche den Mantel, dieses Kleidungsstück, welches viele Krüppel aus sich hervorgehen ließ, noch dulden, namentlich weil Wärterinnen nicht gern mit dem Wagen ausgehen; jüngere können mit diesem Fuhrwerke nicht überall heimlich hinschlüpfen, wo sie nicht hin sollten, in dumpfe Stuben ihrer Bekannten und Verwandten, auf Plätze des Stelldicheins; ältere Wärterinnen halten es unter ihrer Würde, "in der Karre zu fahren", und stolziren lieber im Mantel mit langem Behänge umher, um ihr Kind zu repräsentiren und sich dem Publikum zu empfehlen.“

3. Patente für den Kinderwagen

Im Januar 1856 berichtet die Wiener Zeitung Fremden-Blatt folgendermaßen von der Wochenversammlung des niederösterreichischen Gewerbevereins:

„Hr Pollack zeigte unter Anderen einen sehr zweckmäßig und elegant eingerichteten Kinderwagen, in welchen die Kinder in England herumgeführt werden.
Es besteht zur Erzeugung dieser Wagen in England eine eigene große Fabrik, in der wöchentlich 150 bis 180 dieser Wagen angefertigt werden; der Fabrikant ist binnen drei Viertel Jahren an diesem Artikel reich geworden.“

Wo immer es Geld zu machen gibt, lassen natürlich weitere Erfindungen nicht lange auf sich warten. Insbesondere ab den 1870er Jahren gab es ein Patent für Kinderwagen nach dem anderen. So wurde beispielsweise 1877 ein Patent erteilt für einen verstellbaren Kinderwagen mit Sitz- und Liegefunktion. 1879 kam eine Schlittenvorrichtung auf den Markt, mit der jeder vierrädrige Kinderwagen in einen Schlitten zu verwandeln sei. Anfang der 1880er gab es diverse Patente für zusammenklappbare Kinderwagen, aber erst 1894 wurden Patente erteilt für eine Bremsvorrichtung und einen Sicherheitsgurt.

4. Sattler gegen Korbflechter

Wer darf denn nun eigentlich Kinderwagen herstellen und verkaufen? Darüber stritten sich die Sattler und die Korbflechter. Die Sattler behaupteten, Kinderwagen seien eigentlich nichts anderes als eine Art von Kutschen und die Korbflechter behaupteten: „Nein, nein. Es sind Möbel. Und wir dürfen sie bauen.“

Dieser Streit wurde im Königreich Sachsen 1856 durch ein Polizeigesetz gelöst. Dieses lautete:
„Die Kinderwagen mit Geflechtswagenkörben sind den wirklichen Kutschwagen, bei der gänzlichen Verschiedenheit ihrer Construction und ihres Gebrauchszwecks, nicht gleichzustellen. Insbesondere gehört die Polster- und Lederarbeit zwar zur fertigen Herstellung von Kutschwagen, keineswegs aber gehört solche nothwendig zur fertigen Instandsetzung von Kinderwagen. Es kann daher das Recht der Sattler, mit fertigen Kutschen zu handeln, am wenigsten auf solche Kinderwagen Anwendung finden, welche weder mit Leder beschlagen und überzogen noch mit Lederverdeck oder Polsterung versehen sind.“

Im internationalen Handel jedoch und zur Bestimmung von Zöllen wurde bestimmt, dass alle Kinderwagen, die weniger als 50 Pfund wiegen, als Möbelstück zu behandeln seien, und alle, die mehr wogen, als Kutschen.

5. Auf Trottoir und Promenade

Nicht überall waren Kinderwagen gern gesehen. In vielen Städten war ihre Benutzung auf Gehwegen - Trottoir genannt - sogar polizeilich verboten. In Lübeck gab es 1871 folgende Bekanntmachung:

„Das Befahren der Trottoirs mit Kinderwagen, welches namentlich in der letzten Zeit sehr überhand genommen hat, wird als unzulässig hiemittelst wiederholt und zwar bei einer Geldstrafe von zwei Mark, verboten.

Sämmtliche Polizeibeamte sind angewiesen, auf die strengste Aufrechthaltung dieses Verbotes zu achten, und etwa Zuwiderhandelnde zur Bestrafung aufzugeben.“

Diese zwei Mark wären heute etwa 14 Euro.

Andernorts wurden Kinderwagen nicht vollständig verboten, aber ihre Benutzung wurde stark eingeschränkt. Zum Beispiel in Bamberg 1895:

„Die Trottoirs sind nur für den Verkehr von Personen bestimmt. Es ist deshalb das Befahren oder Verstellen derselben, das Viehtreiben sowie der Transport größerer Lasten oder umfangreicher Gegenstände auf denselben verboten.
Das Befahren der Trottoirs mit Kinderwägen ist nur unter der Beschränkung gestattet, daß dieselben nicht nebeneinander fahren und nicht stehen bleiben dürfen.“

Auch in Hamburg durften nicht mehrere Wagen nebeneinander fahren. Zusätzlich wurde verlangt, dass tatsächlich ein Kind im Kinderwagen sitzen müsse.

In Berlin hingegen wurde die Benutzung des Kinderwagens an das Alter des Kindes gekoppelt. Kinder bis 2, später bis 3 Jahren durften gern im Kinderwagen geschoben werden. Darüber hinaus jedoch brauchten die Eltern ein ärztliches Attest.

6. Straßenverkehrsordnung

1937 wurde festgelegt, dass Rodelschlitten, Kinderwagen und Roller zwar Fahrzeuge seien, aber von der Beleuchtungsvorschrift ausgenommen waren. Davor wurden sie in einem Paragraphen behandelt, der sich mit Kinderspielen befasste.

Kinderwagen sind erst seit 1972 keine Fahrzeuge im Sinne der Straßenverkehrsordnung. Wer einen solchen schiebt, gilt seitdem nicht mehr als Fahrzeugführer:in, sondern als Fußgänger:in.

7. Gesundheitsgefahr

Im 19. Jahrhundert wurde das Verdeck von Kinderwagen gerne aus Ledertuch gefertigt. Mitte der 1870er fiel jedoch auf, dass viele dieser Ledertücher und insbesondere die aus Amerika importierten mit Bleifarbe gefärbt worden waren. Schnell warnten Ärzte im ganzen Land vor Verwendung dieser Tücher. In Bremen wurde die Verwendung von Farbe mit mehr als 2% Bleigehalt unter Strafe gestellt. Auch das Weiterbenutzen solcher Kinderwagen wurde mit Geldstrafen belegt. 150 Mark mussten Eltern berappen, wenn sie mit einem solchen Kinderwagen erwischt wurden. In heutigem Wert sind das etwas mehr als 300 Euro.

Doch nicht nur bleihaltige Farbe war ein Problem. Für Kinderwagen mit Drahtkörben gab es ein schönes Grün, das mit Arsen gemacht wurde.

8. Das Auge fährt mit

Als Luxusartikel war der Kinderwagen natürlich in vielen Varianten und Ausstattungen erhältlich. Als Farbe war besonders Weiß und andere helle Töne sehr beliebt. 1891 jedoch wurde in den Schweizerischen Blättern für Gesundheitspflege davor gewarnt, solche Farben zu verwenden. Und das nicht nur, weil gerade diese häufig mit Blei versetzt waren. Sondern vor allem, weil sie das Kind blenden könnten! Das Weiß sei einfach viel zu grell und hell für die zarten Babyaugen.

9. Vorwärts

Einige Kinderwagen hatten Griffe an beiden Enden, so dass das Kind in beide Richtungen - vorwärts und rückwärts - geschoben werden konnte. Das diente vor allem dazu, den Kinderwagen so schieben zu können, dass das Kind nicht von der Sonne geblendet wurde. Die bevorzugte Richtung war jedoch, das Kind rückwärts zu schieben, so dass die Wärterin oder Mutter es immer im Blick hatte. Und wieder finden wir in den Schweizerischen Blättern für Gesundheitspflege einen merkwürdigen Einwand. 1886 steht hier:

„Man sieht häufig noch Wagen, welche von den Müttern oder Kinderwärterinnen von vorn geschoben werden, wodurch allerdings für dieselben der Vortheil entsteht, daß sie das Kind direkt, von Angesicht zu Angesicht, überwachen können. Bei dieser Art der Wagenbewegung tritt aber der unstatthafte Umstand ein, daß das Kind rückwärts fährt, was, wie Beobachtungen an älteren Leuten lehren, den Augen nachtheilig ist, indem die richtige Fixation der Gegenstände darunter leidet.“

10. Der König und der Kinderwagen

Wir hatten unsere Liste begonnen mit Queen Victoria von England und beenden sie königlich mit Wilhelm III der Niederlande. Seine zweite Frau Emma war 41 Jahre jünger als er und so wurde er 1880 mit 63 Jahren noch einmal Vater. 1883 veröffentlichte der evangelische Pastor und christliche Volkserzähler Otto Funcke einen Reisebericht mit dem Titel „Englische Bilder in deutscher Beleuchtung“. Darin schildert er, wie er den König der Niederlande getroffen hat:

„Heuer habe ich in den Promenaden des Bades Wildungen etwas gesehen, was ich noch nie gesehen hatte, und was auch die allermeisten Leser vermuthlich weder gesehen haben noch sehen werden. Ich habe nämlich einen König gesehen, der sein sechsmonatiges Mägdelein im Kinderwagen herumfuhr. Derweil die Wärterin ihres Strickstrumpfes wartete oder der Philosophie oblag, fuhr der alte König von Holland freudestrahlenden Antlitzes sein Kind spazieren, das ihm die jugendliche Königin geschenkt hatte. Man sagte mir, dasselbe Bild könnte ich jeden Tag sehen. Mir war es werthvoll, daß ich es auch nur einmal sah. Es fehlt freilich in Wildungen nicht an „vornehmen“ Leuten, die solche Wärterinnenarbeit des Königs nicht sehr königlich, ja mit der Etikette unverträglich fanden. Ich (der ich gottlob ! von dem verwünschten Ding, das man Etikette nennt, nichts verstehe) war natürlich umgekehrter Ansicht.“

Wie schön, dass der alte König so eine Freude an seinem kleinen Baby hatte! Er hätte ein großartiges Vorbild für andere Väter sein können, aber es dauerte noch über 100 Jahre bis ein Papa mit Baby im Kinderwagen zu einem normalen Bild im Stadtleben wurde. Ich bin Jahrgang 1975 und mein Papa erzählte mir, dass er angeguckt wurde wie ein bunter Hund, wenn er mich im Kinderwagen durch Köln spazieren fuhr. In dieser Hinsicht hat sich doch einiges gebessert.