Der Arzt und Anthropologe Hermann Heinrich Ploss (1819-1885) führte im zweiten Band seines Werkes Das Kind in Brauch und Sitte der Völker von 1876 eine Vielzahl an Beispielen für Aberglaube rund ums Baby auf. Hier sind 15 daraus abgeleiteten Bräuche, die dem Kind Unglück bringen sollen.
Aberglaube ist selten einfach nur eine Schnapsidee, die sich verfestigt hat. Oftmals hat er einen konkreten Ursprung und/oder Zweck. So können Menschen absichtlich einen Aberglauben verbreitet haben, um andere Leute dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu lassen. Oder sie haben sich mit dem Aberglauben Dinge erklärt, die ihnen wunderlich vorkamen.
- „Eine namentlich an der Nordküste Deutschlands herrschende Meinung lautet: Kleine Kinder soll man nicht wägen, sonst gedeihen sie nicht, nicht messen, sonst wachsen sie nicht.“
Dieser Aberglaube zielt darauf ab, dass Eltern sich nicht zu viele Sorgen machen sollen, denn je mehr auf potentielle Probleme und Gefahren geachtet wird, desto eher werden solche dort gesehen, wo gar keine sind. - „Bei Potsdam hütet man sich, das erste Badewasser im Sonnenschein auszugiessen, sonst bekommt das Kind Sommersprossen.“
Sommersprossen gelten heute zwar als schick, aber früher galten sie als Makel – so sehr, dass es gleich mehrere Bräuche zu ihrer Vermeidung gab.
„Ein Kind darf man, wie es fast überall, d. h. in der Oberpfalz und Rheinpfalz, in Schwaben, im Vogtland, im Spessart, in Böhmen, Schlesien, Berlin etc. heisst, nicht in den Regen tragen, sonst bekommt es Sommersprossen.“
Im 19. Jahrhundert wurden sogar Bleichmittel für die Haut vermarktet, die die Sommersprossen entfernen sollten. - „In Franken, Schlesien und Thüringen hütet man sich, den Kindern irgend Etwas am Leibe zu flicken, sonst werden sie vergesslich und man verflickt ihnen den Verstand.“
Es macht bestimmt keinen Spaß, ein Kind zum Stillhalten zu bringen, damit an der Kleidung etwas genäht werden kann. Von daher ist dies sicher ein sinnvoller Aberglaube. ;-) - „Eine leere Wiege darf nicht gewiegt oder geschaukelt werden, sonst stirbt entweder das Kind (Franken, Mark Brandenburg, Oesterreich.-Schlesien u. s. w.) oder man raubt ihm die Ruhe (Vogtland, Böhmen, Sächs. Erzgebirg, Schlesien, Mecklenburg, Rügen, Oldenburg u. s. w.)“
Dieser Aberglaube ist faszinierend in seiner Verbreitung und der Variation. Weder ist mir der Ursprung, noch der Zweck dieses Aberglaubens offensichtlich. - Fenster statt Türen zu benutzen war auch ein weit verbreitetes No-no.
„Sehr allgemein, d. h. in Mecklenburg, Oldenburg, Rheinpfalz, Sachsen u s. w. , ist der Aberglaube verbreitet, dass man ein Kind nicht aus dem Fenster reichen darf, ohne es wieder zurückzureichen, sonst wächst es nicht.“
„In der Mark Brandenburg, in Schlesien und der deutschen Schweiz hingegen heisst es: Hebt man das Kind zum Fenster herein und hinaus, so lernt es stehlen.“
In dem ersten Beispiel handelt es sich anscheinend um ganz kleine Kinder ("heraus reichen"), bei dem zweiten um etwas größere ("hinein heben"). - „In Königsberg hütet man sich, die Fusssohlen eines Kindes zu küssen, weil das Kind dann später keine Achtung vor seinen Eltern haben würde.“
Hier wird der Symbolik des Füße-Küssens bei Erwachsenen als Tatsachen schaffender Akt angesehen. - „weit verbreitet, d. h. von der deutschen Schweiz bis Königsberg i. Pr., ist die Regel: Kinder darf man nicht kitzeln, sonst lernen sie stottern.“
Auch wenn Kitzeln Lachen auslöst, kann es für die gekitzelte Person schlimm sein. Kitzeln kann weh tun und die gekitzelte Person kann sich ausgeliefert fühlen. Von daher ist ein Aberglaube, der Kitzeln verbietet, nichts schlechtes. Aber die implizite Diskriminierung stotternder Menschen ist problematisch. - „Die sonderbare Vorstellung, dass man dem Kinde die Nägel nicht abschneiden, sondern abbeissen darf, herrscht im deutschen Volke fast überall ; allein man deutet die Folgen verschieden; in der Rheinpfalz, in Unterfranken, im Vogtland, in Mecklenburg, in Böhmen meint man: sonst werde das Kind einst stehlen; im Erzgebirge: sonst schneidet man ihm das Glück ab; in Oesterreichisch-Schlesien: sonst wird das Kind einfältig; in Schwaben: sonst würden Hexen dazu kommen; in der Schweiz: sonst Würde ihr Fingernagel schief wachsen.“
Dass einem Baby die Nägel nicht geschnitten werden dürften, wurde mir bei meinem ersten Kind noch als Fakt unterbreitet, ohne eine Erklärung liefern zu können. - „In der Schweiz heisst es, dass man ein Kind des Morgens nicht kämmen dürfe, sonst hat es einen verworfenen Tag und ist den bösen Leuten verfallen; auch dürfen vor dem 7. Jahre dem Kinde die Haare nicht geschnitten werden, sonst kommt es nie zu Kräften; und schliesslich dürfen die erstgeschnittenen Haare nicht verbrannt werden, sonst kann es nicht gedeihen.“
Dein Kind hat schlechte Laune? Dann hast Du ihm wohl die Haare gekämmt! :-D
Wenn es doch immer eine solch einfach Erklärung gäbe!
Bemerkenswert finde ich, dass es dank dieses Aberglaubens in manchen Gegenden wohl normal war, 6-jährige Kinder jeden Geschlechts mit langen Haaren zu sehen. Auch dass Leute anscheinend regelmäßig Haare verbrannt haben, finde ich faszinierend. Das stinkt doch! - „Wenn man ein Kind »Ding« nennt, oder »Kröte«, oder »Kraw« (Krabbe), so nimmt man, wie's in Mecklenburg heisst, ihm auf 9 Tage das Gedeihen hinweg.“
Aberglauben, der die Würde eines Menschen aufrecht erhalten soll, kann ich nicht verurteilen. - „Ein sehr allgemein adoptirter Grundsatz, der namentlich in Schwaben, Kärnthen und Ostpreussen angetroffen wurde, lautet: Fremden darf man das neugeborene Kind nicht zeigen.“
Das schützt das Neugeborene vor Krankheiten. Auch Aberglauben, der die Gesundheit eines Menschen aufrecht erhalten soll, kann ich nicht verurteilen. - „Das Kind darf im Vogtlande nicht Eier essen, sonst wird es geschwätzig; ebensowenig darf es dort Hirse essen, sonst bekommt es Hirsekörner im Gesicht und Gerstenkörner in den Augen.“
Dieser Aberglaube zeigt, wie wenig Menschen über körperliche Vorgänge und Ursachen von charakterlichen Eigenschaften wussten. - „Nimmt man auf Rügen das Kind aus dem Bett, so muss man dasselbe sogleich wieder zudecken, sonst nehmen böse Geister den Platz ein, wodurch es nicht gedeiht und abnimmt.“
Der Satz ist etwas wirr geschrieben. Gemeint ist: die Bettdecke soll nie aufgeschlagen bleiben, da sonst das Kind Gedeihprobleme bekomme.
Dieser Aberglaube erinnert an Punkt 4. Wir können wohl schließen, dass Eltern einfach oft Angst um Leben und Gesundheit ihrer Babys hatten und auf Nummer Sicher gehen wollten, nichts falsch zu machen. - „Man bildet sich ein, dass eine Menge Dinge einen übernatürlichen Einfluss auf den Schlaf des Kindes haben. Wer in eine Stube kommt, in welcher ein kleines Kind ist, muss sich etwas niedersetzen, sonst nimmt er dem Kinde die Ruhe; das gilt in Thüringen, Sachsen, Schlesien, Böhmen u. s. w.“
Sich für ein Weilchen hinzusetzen, bringt Ruhe ins Leben, und schlaflose Kinder haben schlaflose Eltern. Wer will schon für die Schlaflosigkeit junger Eltern verantwortlich sein? Da setz ich mich lieber kurz hin. :-) - „Schliesslich darf im Vogtlande das Kind keine rothen Schuhe tragen, dann wird es in der Folge kein Blut sehen können.“
Wer kein Blut sehen kann, kann im Notfall schlecht helfen, und ist ungeeignet für die Küchenarbeit, denn die Tiere kamen nicht so in die Küche, wie heute.
Was sagst Du zu diesen Glaubenssätzen und Bräuchen? Welche kanntest Du schon? Welches ist der seltsamste Aberglaube, der Dir je begegnet ist? Schreib mir einen Kommentar.