Teil 1 - Wie Johanna Haarer heute wahrgenommen wird

Johanna Haarer (1900-1988) war Autorin der NS-Erziehungsratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" und "Unsere kleinen Kinder". Insbesondere das erstgenannte Werk ist berühmt-berüchtigt. Es gibt einige wissenschaftliche Arbeiten zu Haarer und ihren Büchern, die darstellen, wie weitreichend ihr Einfluss war. "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" erschien erstmals 1934. Bis Kriegsende sollen nahezu 700.000 Exemplare verkauft worden sein. Die letzte Auflage von 1987 warb mit über 1 Million verkauften Exemplaren. Zudem diente es als Lehrbuch für Mütterschulungskurse und in Berufs- und Fachschulen für Kinderpflegerinnen, Kindergärtnerinnen und Jugendleiterinnen [Quelle]. Es ist also unbestritten, dass diese Bücher nachhaltig auf die Erziehung in deutschen Kinderstuben einwirkten.

1997 beschäftigte sich die Soziologin Sigrid Chamberlain in ihrem Buch "Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" ausführlich mit den Erziehungsratgebern Haarers. Chamberlain bietet einen eindrücklichen Einblick, welche kurz- und langfristigen Auswirkungen NS-Erziehung auf Kinder hat und was Eltern veranlasst hat, sie anzuwenden. Allerdings erweckt Chamberlain den Eindruck, als wäre Haarer allein verantwortlich für die gesamte NS-Erziehung. Spätestens seit dem Erscheinen von Chamberlains Buch fokussiert sich daher die Berichterstattung und das öffentliche Augenmerk, wenn es um NS-Erziehung geht, einzig auf Johanna Haarer.

 

Johanna Haarer in der öffentlichen Wahrnehmung

Der Name Haarers ist vielen Eltern ein Begriff, obwohl die wenigsten eines ihrer Bücher oder das von Chamberlain gelesen haben. Ihr Name ist zum geflügelten Wort geworden. Er wird gleichgesetzt mit Schwarzer Pädagogik und NS-Erziehungsmethoden. In Mütter-Foren und den Social Media folgt die Erwähnung Haarers Godwin's Law: sobald es um die Missachtung kindlicher Bedürfnisse geht, ist zu erwarten, dass ihr Name fällt.

Dieses Phänomen besteht schon lange. Mittlerweile hat es aber auch den Weg in die Medien gefunden. Johanna Haarer und ihr Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" sind dasStandardbeispiel für NS-Erziehung in Zeitungsartikeln und Rundfunkbeiträgen. Nur selten wird dabei erwähnt, dass es sich lediglich um ein Beispiel handelt, oder wird Haarer anderweitig in Relation zu ihren Vorläufer'innen und Zeitgenoss'innen gesetzt. Eine Recherche nach weiteren Beispielen scheint nicht statt zu finden. Es gibt mittlerweile so viel Material zu Johanna Haarer, dass es bequem ist, sich daran zu orientieren.

Es ist wichtig, Aufklärung darüber zu leisten, wo destruktive Erziehungsmethoden her kommen und wie wir heute unter der Erziehung unserer Großeltern leiden. Das muss aufgearbeitet werden im Interesse von uns selber und unserer Kinder und Kindeskinder. Denn solche Erziehung hinterlässt Traumata, die unbewusst über Generationen weiter gegeben werden können.

"Das nach Haarer aufgezogene Kind"

Die Aufklärung kann aber nicht bei Haarer aufhören. Sie war Teil des Problems, aber weder Ursprung noch Hauptgrund. Chamberlain verwendet immer wieder Formulierungen wie "nach Haarers Meinung", "bei dem nach Haarer aufgezogenen Kind", "nach Haarers Anweisungen" oder schlicht "das Haarer-Kind". Keine dieser Bezeichnungen ist zutreffend. Haarer hatte keine hervorgehobene Position zu vergleichbaren Autor'innen. Das werden wir in den nächsten Teilen ausführlich besprechen.

Wir werden sehen, wo diese Ideen tatsächlich her kommen. Wir werden sehen, wie Haarer in der NSDAP-Propagandamaschine einzuordnen ist. Wir werden sehen, ob und wie sie sich nach dem Krieg von neu erschienenen Ratgebern unterschied.

Es geht dabei nicht darum, ihren Einfluss klein zu reden. Es geht um die richtige Einordnung und die Erkenntnis, dass das Problem viel größer ist als Haarer selbst; viel größer als der Schaden, der durch eine einzelne Autorin angerichtet werden konnte. Wir wissen ja nicht einmal mit Sicherheit, warum gerade Haarers Ratgeber sich so gut verkaufte. Vor allem wissen wir nicht, was die Eltern aus diesem Buch wirklich mitgenommen haben. Ging es ihnen um die Erziehungstipps oder vielleicht doch nur um die Sachinformationen? Von den 262 Seiten in "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" (Auflage von 1938) handeln 105 von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Der Rest ist im weitesten Sinne Säuglingspflege. Dabei gibt es natürlich strenge Stillregeln, Anweisungen zum Schreienlassen und generelle Erziehungsratschläge, aber auch Rezepte, anatomische Erklärungen zu Körperfunktionen, sowie Näh- und Strickanleitungen. Insgesamt nimmt die Erziehung also nur einen relativ kleinen Teil des Buches ein.

Mich erinnert das an die Diskussion um den Bestseller "Jedes Kind kann schlafen lernen" von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth. Schon oft habe ich dabei gehört, dass Eltern das Buch wegen der Sachinformationen gern gelesen haben, aber niemals das darin beschriebene "Schlaflernprogramm" anwenden würden oder wenn, dann nur in sehr abgeschwächter Form. Dass Schlaflernprogramme noch heute verbreitet sind, lässt sich auch nicht diesem einen Buch anhängen.

In dieser Reihe:

Teil 1 - Wie Johanna Haarer heute wahrgenommen wird

Teil 2 - Vorläufer der schwarzen Pädagogik

Teil 3 - Der NS-Staat und seine Erziehungspropaganda

Teil 4 - "Die Mutter und ihr erstes Kind" und andere Nachkriegsratgeber