1865 erfand Justus von Liebig die erste Pulvermilch. Sie war als Nahrungsergänzung für Säuglinge und Kleinkinder konzipiert. Bereits 1868 brachte Henri Nestlé seine eigene Variante dieses Milchpulvers hervor und vermarktete sie als Muttermilchersatz. 1872 stieg Nestlé in den Weltmarkt ein und setzte sich 1875 als reicher Mann zur Ruhe.
In nur sieben Jahren hatte die Pulvermilch die Welt erobert. Geschafft hatten die Firma Nestlé und eine Anzahl weiterer Firmen dies mit massiven Werbeanstrengungen - zum Nachteil des Stillens.
"1890 wurden in Berlin an der Brust ernährt 50,7%, 1895 = 43,1%, 1900 nur 32,5%."
Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, Gustav Temme, 1908
Pulvermilch galt schnell als modern und sicher. Dass Eltern dank Flasche sehen konnten, wieviel ihr Kind trank, gefiel dieser Generation, für die Messbarkeit und Kontrolle einen hohen Stellenwert erlangt hatte. Insbesondere in Sachen Gesundheit galten Ordnung und Regelmäßigkeit neben klinischer Sauberkeit nämlich als höchstes Gut. Da bieten Abkochen und Abmessen der Säuglingsnahrung einfach eine vermeintliche Zuverlässigkeit und scheinbare Sicherheit.
Kinderärzte hingegen wussten sehr gut über die Gefahren der noch unzureichenden Pulvermilch bescheid. Sie sahen die Folgen der falschen Ernährung täglich in ihren Praxen.
"Tatsache ist, daß die deutschen Mütter nur noch zu einem kleinen Teile den Kindern die natürlichste Nahrung verabreichen: die Muttermilch. Gewiß hat daran zu einem großen Teil das gesteigerte Erwerbsleben schuld, das ein immer größeres Heer von jungen Müttern in die Fabriken treibt. Aber auch die wohlhabenden Kreise stillen nicht mehr. Die Frauen, die auf den sonnigen Höhen des Lebens wandeln, sie stillen am allerwenigsten.
In Berlin nährte man 1890 von 100 Säuglingen noch 50 mit Muttermilch, heute kaum 30. Und die Folge? Die künstlich, mit der Flasche, mit Kindermehlen oder anderen teuren Surrogaten mühsam aufgepäppelten Kinder sterben in den heißen Sommermonaten am Brechdurchfall hin wie die Fliegen."
Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, Gustav Temme, 1908
Daher versuchten die Ärzte das Stillen zu fördern, machten dies aber auf eine so herablassende und diskriminierende Art, dass es gar nicht funktionieren konnte. Gleichzeitig stellten ganz im Sinne des Zeitgeists immer strengere Stillregeln auf, die dazu führten, dass Mütter an ihrer Stillfähigkeit zweifelten. Feste Abstände zwischen den Mahlzeiten und Beschränkung der Trinkmenge wurden beim Stillen gefordert und lassen sich doch mit der Flasche viel leichter durchsetzen. So trugen die Kinderärzte ironischerweise gewaltig zum Sinken der Stillquoten bei.
"Zorn überkommt mich, wenn ich immer wieder höre: 'die Mutter wollte, aber konnte beim besten Willen nicht stillen.' Kann sie es nicht, dann lerne sie es, lerne es mit Hilfe des Arztes, mit Hilfe der Hebamme."
A-B-C für junge Mütter, Dr. Simon Ziegelroth, 1914
Hersteller von Ersatznahrung hingegen hatten und haben wenig Interesse daran, dass Mütter stillen. Diese Firmen waren aber schon immer gut darin, Druck aufzubauen und Zweifel an der Stillfähigkeit zu sähen. Erfolgsdruck ist nahezu ein Garant dafür, dass das Stillen nicht klappt. Durch wiederholtes Erwähnen, dass es Mütter gibt, die nicht stillen können, wird die Anzahl dieser Mütter gewaltig überschätzt und bei den geringsten Problemen fragt die Mutter sich, ob sie vielleicht dazu gehört. Den Rest können die Hersteller getrost den Ärzten und Hebammen überlassen. Sie werden schon dafür sorgen, dass das Stillen dann wirklich nicht klappt.
"Aus sittlichen und aus hygienischen Gründen ist es die naturgemäße, heilige Pflicht einer jeden gesunden Frau, ihr Neugeborenes mindestens in den ersten Monaten selbst zu stillen. (...) Sollten Zweifel auftreten, ob und wie eine Mutter ihr Kind selbst stillen kann, so überlasse sie die Entscheidung einem erfahrenen Arzte."
Der Säugling - Führer für jede Mutter, 20. Auflage, Werbebroschüre der Firma Kufeke, ca. 1936
Heute ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass auf der Verpackung von Muttermilchersatz der Hinweis stehen muss, das Stillen "das Beste fürs Baby" sei. Stillen ist jedoch nicht das Beste, sondern die physiologisch normale Ernährungsform. Stillen hat demnach keine Vorteile, sondern ist der Standard, an dem sich Ersatznahrung messen muss.
"Stillen ist die beste Ernährung für Ihr Baby. Sprechen Sie bitte mit Ihrem Kinderarzt oder Ihrer Hebamme, wenn Sie eine Säuglingsnahrung verwenden wollen."
Hinweis auf einer Dose Beba Pre-Nahrung
Aber auch heute müssen sich die Hersteller keinen Kopf darum machen, mit derartigen Hinweisen Kund_innen zu verlieren. Das Thema Stillen findet in der Ausbildung von Kinderärzt_innen und Hebammen quasi nicht statt und Fortbildungen zu dem Thema sind oft von Herstellern finanziert. So haben die Hersteller hier nicht zu befürchten, Marktanteile zu verlieren.
Die WHO hat 1981 den Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten verabschiedet, der nicht nur das Stillen tatsächlich fördert, sondern auch nicht gestillte Babys schützt. Indem nämlich sicher gestellt wird, dass Eltern Hersteller-unabhängige Informationen zu Ersatzprodukten bekommen und Sicherheitsstandards eingehalten werden, können nicht gestillte Babys genau die Ersatznahrung bekommen, die sie brauchen. Leider ist der Kodex noch immer in keinem Land der Welt vollständig gesetzlich umgesetzt worden.
Doch zurück zu den Anfängen. Bevor es auch nur die geringsten gesetzlichen Vorschriften gab, schreckten die Hersteller vor keiner Masche zurück. Auch nicht davor, Ärzt_innen und Hebammen selber für die Vermarktung einzusetzen.
"Wissen Sie, daß es Hebammen gibt, die vom Stillen abraten, weil sie von Nährmittelhändlern bestochen sind und Prozente erhalten?"
Pflege und Ernährung des Säuglings - Ein Leitfaden für Pflegerinnen, Dr. M. Pescatore, 1906
Auch Werbebroschüren, die nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen waren, gab es. Die Firma Kufeke war einer der ersten Hersteller von Pulvermilch. Sie gab eine Broschüre heraus, die vordergründig wie ein Ratgeber zur Säuglingspflege daher kam, letztlich aber vor allem Werbung war. Ich habe hier die 20. Auflage dieser Broschüre. Vermutlich aus dem Jahr 1936. Die Ratschläge darin waren typisch für die Zeit.
"Es gibt Kinder, die nur schreien, um sich Bewegung zu verschaffen; ein solches Schreien, das oft täglich zur gleichen Stunde einsetzt, fördert den Stoffwechselumsatz.
Man soll die Kinder nicht an Wiegen, Schaukeln, Schütteln, überflüssiges Herumtragen sowie Hin- und Herfahren im Wagen gewöhnen, sie sollen ohne das einschlafen. Gibt man hier nach, dann darf man sich nicht wundern, wenn sich die Kleinen zu Tyrannen entwickeln."
Der Säugling - Führer für jede Mutter, 20. Auflage, Werbebroschüre der Firma Kufeke, ca. 1936
Im hinteren Teil der Broschüre gibt es eine große Zahl an Briefen, die von Eltern, Hebammen und Ärzten an Kufeke geschrieben wurden. Die darin geschilderten Erfahrungsberichte werden auf diese Art als Empfehlungen genutzt. So sind 17 der 64 Seiten dieser Broschüre reine Werbung.
Kufeke vermarktete sein Pulver als wahres Wundermittel. Es konnte eingesetzt werden als Säuglingsnahrung, Brei und Heilnahrung für Kinder und Erwachsene. Die Zuschriften der Hebammen zeigen die vielfältigen Einsätze von "Kufeke" - das Produkt hieß wie die Firma.
"Frau Auguste Schulz, Hebamme in Berlin N24, Elsasser Str. 69:
Ich kann 'Kufeke' nur aufs wärmste empfehlen, ganz besonders bei den Frauen in den ersten Monaten der Gravidität, wo diese doch so sehr an Erbrechen leiden und selten Nahrung behalten wird, was aber nach regelmäßiger Aufnahme von 'Kufeke'-Suppen sich sehr gut besserte."
"Regelmäßge Aufnahme" klingt danach, dass die "Wirkung" eine Weile auf sich warten ließ. Vielleicht sogar Wochen. Mit anderen Worten: es wäre ohne Kufeke vielleicht genauso besser geworden, weil Schwangerschaftsübelkeit in den meisten Fällen sowieso von allein nachlässt.
"Frau Anna März, Hebamme in Nürnberg, Sandreuther Str. 28:
Habe nämlich ein Kind (jetzt 1 Jahr alt), das war mit 6 Monaten noch so klein wie mit 2 Wochen, Milch konnte es überhaupt nicht vertragen und war im höchsten Grade rachitisch. Seit einem halben Jahr gebe ich ihm 'Kufeke' und jetzt steht er schon alleine auf, ist also nicht viel hinter anderen Kindern zurück. Ich gab wohl auch etwas Lebertran, aber die Hauptsache verdankt es doch 'Kufeke'."
Das klingt wahrlich nach einem Wundermittel. Ich bezweifle den Wahrheitsgehalt des Berichts.
"Frau Käthe Scharff, Hebamme in Jetzendorf (Oberbayern):
Ich hatte am 18. d.M. eine Geburt geleitet, bei der nach zehn Mädchen der langersehnte Stammhalter eintraf und begreiflicherweise von der ersten Minute an alle Kräfte angewendet werden mußten, um seinem Erdenbürgerdasein keinen Abbruch zu tun. Von den letztgeborenen Kindern wurde keines mehr an der Brust gestillt, doch diesmal zog die glückliche Mutter ihren einzigen Jungen gleich an die Brust. Er nahm sie auch und trank tüchtig, doch dafür schrie er nachher auch um so mehr, selbst die ganze Nacht machte er in diesem Ton weiter und zwei Tage dauerte dieses unliebsame Konzert. Wie immer in solchen Fällen, wurden nun ohne mein Wissen alle erdenklichen Arten der Sättigung angewendet, wie so sind Kümmelwasser, Haferschleim, verdünnte Kuhmilch und dergleichen Rezepte, natürlich ohne den leisesten Erfolg.
Nun erst wurde ich von dem Gebaren des kleinen Trotzkopfes in Kenntnis gesetzt. Ich schickte sofort eine Probe 'Kufeke' mit Anweisung hin, und als ich am anderen Tage meinen Besuch machte, hörte ich, daß sich der kleine Georg auf das Kindermehl ganz verändert hat, ja, daß er seine Konzerte eingestellt und sehr artig ist. Auch die nächsten Tage verliefen lautlos und kein Wort des Tadelns über den anfänglichen Schreihals mußte ich mehr hören. Gestern morgen stand aber auch schon eine 'Kufeke'-Dose auf dem Tisch. Das Lob und die Dankesworte der Mutter, die ich heute bei meinem lezten Besuch zu hören bekam, gebühren natürlich nur Ihnen, denn an meiner Person lag nur das Mittel zum Zweck."
Der arme kleine Georg, und seine armen großen Schwestern.
"Frau Th. Gerlach, Hebammenschwester in Dingelstädt:
... daß ich durch Ihr 'Kufeke' nur glänzende Erfolge zu verzeichnen habe. Werde in meiner Praxis nur Ihr Erzeugnis vorziehen, weil es zuverlässig und fördernd ist."
Schon als Hebammenschülerin einer Marke treu! So klappt das mit der Langzeitbindung.
Werbung wirkt vor allem, wenn sie von Autoritäten kommt. Und Ärzte hatten ganz besonders viel Autorität.
"Dr. med. Karl Berger, Facharzt für Säuglings- und Kinderkrankheiten in Ludwigshafen a. Rh., Bismarckstraße 56:
Da ich bei meinem 3 Monate alten Kinde schon verschiedene Nahrung probiert habe und es bis jetzt alles nicht vertrug, bin ich auf Ihr 'Kufeke' gekommen. Ich muß sagen, seit mein kleiner Sohn die Nahrung bekommt, ist er viel zufriedener, seine Verdauung ist sehr schön und er nimmt die Nahrung mit Vorliebe. Ich habe derzeit Ihr 'Kufeke' schon viel verordnet, da ich jetzt selbst den schönen Erfolg sehe."
Wie Dr. Berger schreiben hier mehrere Ärzte, dass die das Produkt aufgrund persönlicher Erfahrung in ihrer Praxis empfehlen.
"Prof. Dr. Bauer, Chefarzt des Hamburger Säuglingsheims in Hamburg 37, Oberstraße 107:
Ich bestätige Ihnen hiermit, daß ich in der Klinik und Privatpraxis das 'Kufeke'-Mehl bei Säuglingen und Kleinkindern gern benutze und stets mit dem Präparat zufrieden war."
Ein ganzes Säuglingsheim fest in den Händen einer Herstellerfirma! Das lohnt sich. Aber nicht nur Zuschriften wurden abgedruckt. Auch anderer Quellen bediente Kufeke sich.
"In seinem Vortrage 'Beiträge zur antiseptischen Behandlungsmethode der Magenerkrankungen des Säuglings', gehalten am 20.9.1887 in der pädiatrischen Sektion der 60. Naturfoscherversammlung zu Wiesbaden, sagte
Prof. Escherich, Kinderspital St. Anna in Wien:
'Unter den gebräuclichen Kindermehlen, die wegen ihrer Billigkeit, Haltbarkeit und Bequemlichkeit anderen Präparaten praktisch wohl stets den Rang ablaufen werden, hat mir das von Kufeke in den Handel gebraachte die besten Dienste geleistet.'"
Die Broschüre selber enthält kein Erscheinungsdatum, aber andere Erfahrungsberichte sind auf 1935 datiert. Hier wird also eine fast 50 Jahre alte Aussage als Werbung für das Präparat verwendet!
Dass der Professor überhaupt eine Marke nennt und empfiehlt, wäre heutzutage undenkbar. Damals gab es aber derart große Unterschiede in den Präparaten, dass eine Erwähnung meist einher ging mit einer Erklärung der Unterschiede, und somit verständlich ist. Es ist aber anzunehmen, dass diese Praxis viel zu lange fortgesetzt wurde.
Neben Vorträgen zitiert die Broschüre auch aus Büchern. Veralteten Büchern.
"Prof. Biedert in Straßburg
schreibt in der 2. Auflage seines Buches 'Die Kinderernährung im Säuglingsalter und die Pflege von Mutter und Kind', 1893, S.102: '... daß das dextrinierte 'Kufeke'-Mehl vom empfindlichen Kinde doch besser verdaut würde als ähnliche Surrogate, da vor allem bezüglich der Stärkeumwandlung an die Mehle die höchste Anforderung zu stellen ist, und 'Kufeke'-Mehl dieser Hauptbedingung am vollkommensten von allen Surrogaten genügt.'"
Tja, in der fünften Auflage dieses Buches von 1905, die ich hier vorliegen habe, steht das nicht mehr drin!
Außerdem vermarktete Kufeke sein Kindermehl nicht nur als Muttermilchersatz, sondern auch als Heilnahrung, so dass sie bequem das Lob auf die Heilnahrung als Lob für den Einsatz als Muttermilchersatz hinstellen konnten. Dort, wo Biedert nämlich schreibt, dass milchfreie Präparate wie Kufeke eine gute Wirkung hätten, geht es um Durchfall und magelhafte Fettresorption des Darmes. Nicht um gesunde Säuglinge.
Das sind nur Beispiele einer einzigen Firma. Aber alle großen Firmen haben unlautere Werbung gemacht.
"Einen guten Teil der Schuld [am Nichtstillen] trägt endlich noch die gewinnsüchtige Reklame so mancher spekulativer Fabriken, die ihre Nährmittel als vollkommenen Ersatz der Mutterbrust preisen. Und doch hat noch keines dieser vielen Surrogate, deren Zahl Legion ist, vor der objektiven Kritik bestehen und im entferntesten auch nur das halten können, was es versprach."
Der Säugling - seine Ernährung und seine Pflege, Dr. Walther Kaupe, 1907
Laktation (Milchbildung) ist eine körperliche Fähigkeit, die man entweder hat oder nicht. Stillen ist eine soziokulturell erlernte Fähigkeit. Je weniger in einer Gesellschaft gestillt wird, desto mehr geht das Wissen über das Stillen und sozusagen auch die Fähigkeit zu stillen verloren. Fehlt es an Vorbildern - vor allem in der eigenen Familie - gelingt das Stillen oft nicht. So sind die Stillquoten seit Markteinführung der Pulvermilch drastisch zurück gegangen und erst als Mütter sich Ende der 1970er zu Selbsthilfe-Stillgruppen zusammenfanden, begann ganz langsam wieder ein Aufwärtstrend.