Es kommt gar nicht selten vor, dass Schwangere bezweifeln, dass sie stillen können, weil ihre Mutter nicht stillen konnte. Dabei konnten unsere Mütter und Großmütter meist nur deshalb nicht erfolgreich stillen, weil ihnen von Ärzten und Hebammen Falschinformationen eingebleut wurden.
Dass viele Mütter am Stillen scheiterten wurde jedoch nicht auf die aus heutiger Sicht abstrusen Stillregeln zurück geführt, sondern die Ursache und Schuld wurde bei den Müttern gesucht. Es war durchaus bekannt, dass die Nachfrage das Angebot regelt und die Milchmenge sich anpasst, je mehr oder weniger gestillt wird.
"Und wie steht es mit dem Milchmangel? Könnte hier nicht in Betracht kommen die fortschreitende physische Entartung der menschlichen Rasse auf Kosten der zunehmenden geistigen Entwicklung? Wir wollen sehen, wie es sich in Wirklichkeit verhält. In allen Anstalten (Säuglingsheimen, Mütterheimen, Krankenabteilungen), wo alle von Geburtskliniken usw. entlassenen Mütter ohne Unterschied aufgenommen und unter sachverständiger ärztlicher Leitung zum Stillen herangebildet werden, hat sich die überraschende Tatsache ergeben, daß fast alle ohne Ausnahme (96-98%) stillen können, der allergrößte Teil sogar dauernd und reichlich beim Anlegen mehrerer Kinder. Ja noch mehr: Die Frauen können oft jahrelang Milch produzieren, wenn sie nicht absichtlich aufhören. Einige von ihnen gaben monatelang über 4 Liter Milch täglich, stillen 4 bis 6 Kinder gleichzeitig und haben Dutzenden das Leben gerettet."
Pflege und Ernährung des Säuglings - Ein Leitfaden für Pflegerinnen, Dr. M. Pescatore, 1906
Ich stelle es mir äußerst unangenehm vor, über 4 Liter Milch am Tag zu produzieren. Da bleibt außer dem Stillen auch nicht viel Zeit für andere Beschäftigungen.
Zwei Punkte sind hier wichtig heraus zu stellen. Zum einen führen strenge Stillregeln nicht zu einem unmittelbaren Scheitern des Stillens. Der Milcheinschuss wenige Tage nach der Geburt ist häufig mit einer Überproduktion an Milch verbunden, insbesondere wenn davor nicht häufig angelegt wurde. Die Produktion pendelt sich dann innerhalb der ersten Wochen ein. Das kann gut sechs Wochen dauern. Erst dann macht sich eine falsche Stilltechnik in Form von Milchmangel bemerkbar. Die Ärzte aus den genannten Anstalten bekommen dieses Ergebnis nicht mehr mit. Zum anderen stillen die Frauen, die als Ammen in den Anstalten bleiben, ja mehrere Kinder. Hier fällt die falsche Stilltechnik also auch nicht auf, da noch immer genug gestillt wird, um eine Überproduktion aufrecht zu erhalten.
Den Frauen, die nicht erfolgreich gestillt haben, wird also ein Strick daraus gedreht, dass andere es ja auch schaffen würden - unter der "richtigen" Anleitung. Ähnliches gilt für folgende Beobachtungen:
"Ausser der die Brüste drückenden Volkstracht wird jetzt auch bei andauerndem Nichtstillen die Vererbung des Schwundes der Brustdrüse als Ursache der zunehmenden Unfähigkeit zu stillen bezeichnet. Bei Bollinger (347 e) hat dies sein Assistent Altmann mit dem Mirkoskop nachgewiesen, Hegar (347 a), Rouge (347 b u. c) hat Generationen darauf geprüft; indes konnte Oppenheimer (347 d) aus v. Winkels Klinik berichten, dass dieser bei 95% der Niedergekommenen das Stillen durchsetzen konnte. Das geht durch immer wieder gemachte Stillversuche (S.115), sowie durch kräftige Ernährung, Anlegen der Milchpumpe (S.118), besser von älteren kräftig saugenden Kindern. So konnte Schlossmann (344 b) den allergrößten Teil seiner Wöchnerinnen zum Stillen und die meisten zu grösseren, viele zu enormen Milchmengen bringen. Eine hatte im 11. Monat noch 2705 ccm, im 14. Monat noch 1810 ccm Milch täglich und hat zu Notzeiten durch Aushilfe mit ihrer Milch 20 Kinder vom sicheren Tode errettet. Schon Budin (l'Obstets. 5/97) hatte früher durch ein ähnliches Trainieren im Tag 1650-2270 g Milch erzielt, und unter Zuziehung von Beinahrung für die kräftigeren, 3,8 Kinder von einer Amme stillen lassen. Finkelstein (373) erklärt, dass keine Mutter zum Stillen ganz untauglich wäre. Man wird also die Frauenbrüste leicht wieder verbessern können, wie man auch Euter der Kühe richtet. Hegar regt dazu eine Verschwörung an, dass Männer nur vollbusige Mädchen, diese nur Männer, die an der Brust gelegen haben, heiraten sollen. Und in jedem Einzelfall werden die hier gemachten Mitteilungen den Willen stärken, ein Ergebnis, und sei es auch nur eine Brusternährung mit baldiger Beinahrung zu erzielen."
Die Kinderernährung im Säuglingsalter, Biedert, 1905
Ist es nicht widersprüchlich, dass Biedert einerseits berichtet, fast alle Frauen könnten stillen, dass zum anderen aber die Stillfähigkeit durch regelrechte Zucht verbessert werden sollte?
1964 stellt Catel fest, dass die Stillfähigkeit der Mütter nicht nachweislich gesunken sei, gibt aber wesentlich geringere Zahlen an als Biedert und Pescatore.
"Die natürliche Ernährung des Säuglings an der Brust seiner eigenen Mutter kann bezüglich der Sicherheit des Ernährungserfolges durch keine andere Form der Ernährung ersetzt werden. Von größter Bedeutung ist weiterhin, daß durch das Nähren an der Brust bei der Mutter das Gefühl unlösbarer Zusammengehörigkeit mir ihrem Kind gefördert wird.
Eine völlige Stillunfähigkeit gibt es schon aus anatomischen Gründen nicht. Auch ein Rückgang der Stillfähigkeit der Mütter in den letzten Jahren oder Jahrzehnten ist durchaus unbewiesen. 70-80% aller Frauen (nach anderen Statistiken ein noch höherer Prozentsatz) dürften vollstillfähig sein. Am besten stillen die Landfrauen und Frauen von Arbeitern, am schlechtesten Frauen, deren Ehemänner einen akademischen Beruf ausüben. Frauen mit spätem Eintritt der Menstruation und mit Regelwidrigkeiten zeigen im allgemeinen eine schlechtere Stillfähigkeit als solche mit rechtzeitigem Eintritt und normalem Verlauf der Periode. Die Stilleistung ist ferner bei Frauen bis zum 25. Lebensjahrs besser als bei älteren, außerdem läßt sie Beziehungen zur Geburtenhäufigkeit erkennen: bis zum 4. Kinde ist sie in steigendem Maße gut, um vom 5. Kinde an abzusinken.
Bemerkenswert ist, daß durch Schnittentbindungen die Stillfähigkeit der Mutter herabgesetzt wird."
Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes, Prof. Dr. med. Werner Catel, 1964
Alle möglichen Korrelationen werden hier als Begründung für "schlechtere Stillfähigkeit" angeführt. So wissen wir heute, dass ein Kaiserschnitt keineswegs das Sitllen behindert. Lediglich die Umstände um den Kaiserschnitt herum können sich eventuell negativ auswirken. Die Landfrauen und Frauen von Arbeitern haben sich am wenigsten an die Stillregeln gehalten. Frauen aus den höheren Ständen umso mehr.
Auch für Birk stand es fest, dass der Misserfolg beim Stillen allein an den Müttern läge.
"Die zweite Frage, ob die Mutter stillen kann, ist allgemein dahin zu beantworten, daß es eine absolute Stillunfähigkeit (Agalaktie) nicht gibt. Jede Mutter produziert Milch. Aber viele Frauen können ihre Kinder nicht ausreichend stillen (Hypogalaktie), sei es, daß die produzierte Milchmenge nicht hinreicht, dem Nahrungsbedarf des Kindes Genüge zu leisten, oder daß die Produktion der Milch schon nach 2 oder 3 Monaten ein vorzeitiges Ende findet. Diese „stillschwachen" Frauen sind von den „stillkräftigen" von vornherein nicht zu unterscheiden."
"1 . Die mangelnde Stillfähigkeit der Mütter.
Eine absolute Stillunfähigkeit existiert zwar nicht. Hingegen gibt es viele Mutter, die ihre Kinder nicht ausreichend stillen können. Nach eigenen Beobachtungen sind es unter erstlaktierenden Frauen etwa 13 % , bei denen die Menge der produzierten Milch nicht hinreicht, um den Bedarf des Kindes zu decken. Bei späteren Schwangerschaften bessert sich das Stillvermögen. "
Leitfaden der Säuglingskrankheiten : für Studierende und Ärzte, Dr. Walter Birk, 1914
Das "Stillvermögen" dürfte sich vor allem deshalb bessern, weil die Mütter sich beim zweiten Kind nicht mehr so verunsichern lassen. Das ist ja noch heute so!
All diese Erkenntnisse brachten die Ärzte aber nicht dazu, an den Stillregeln zu rütteln! Ordnung und Regelmäßigkeit galt als oberstes Prinzip. Die Mütter wurden angehalten, nur zu bestimmten Zeiten und nicht länger al 15-20 Minuten zu stillen. Nach dem Stillen sollte die Brust mit Hand oder Pumpe entleert werden, damit die Produktion nicht zurück ging.
"Mit der Brust ist es ja nicht anders, wie mit allen Organen des Körpers, werden sie angespannt und durch Gebrauch trainiert, dann werden sie leistungsfähig, werden sie durch Gebrauch nicht angeregt, so versagen sie ihren Dienst. Denken Sie nur an die Muskulatur Ihrer Beine, wie schwach sind sie, wenn Sie durch eine wenn auch nur kurze Krankheit gezwungen waren, ruhig im Bette zu liegen, kaum konnten Sie die ersten Gehversuche allein ausführen, und wie munter schreiten Sie in den Ferien auf erquickender Bergtour neben Ihrem Gatten dahin. Saugt das Kind zu wenig, so muß die in den Brüsten noch vorhandene Milch abgespritzt oder durch eine Saugpumpe abgesogen werden, wenn auch im allgemeinen die Regel gilt, daß jede Brust so viel Milch hat, wie sie das Kind gebraucht."
Die Frau - was sie von Körper und Kind wissen muß, Dr. Wilhelm Liepmann, 1914
Viele Frauen können aber nicht oder nicht gut pumpen oder mit der Hand entleeren. Aus meiner Stillberatungstätigkeit kenne ich Mütter, die erfolgreich voll stillten, aber kaum einen Tropfen abpumpen konnten. Die Pumpe funktioniert eben ganz anders als das Saugen eines Kindes.
Ein Stillen nach Bedarf ist der Grundstein für eine erfolgreiche Stillzeit. Viel zu vielen Müttern wurde dies verwehrt. Viel zu vielen Müttern wurden Vorwürfe gemacht, die sie sich angeeignet haben. Keine Mutter sollte sich schuldig fühlen, weil das Stillen nicht geklappt hat.