Interessantes, Wissenswertes und Kurioses aus der Geschichte der Säuglingspflege, erzählt durch zeitgenössische Ratgeberliteratur.
Heute gibt es grob gesagt zwei Strömungen in der Kindererziehung. Die einen setzen auf Regeln und Disziplin, die anderen bauen auf die Kooperationsfähigkeit und den natürlichen Reifungsprozess der Kinder. In der öffentlichen und auch in der privaten Diskussion sind die erstgenannten meist die Anklagenden und die letzteren die Verteidiger. Die Anklagenden argumentieren häufig, dass die anderen ihre Kinder zu eng an sich binden würden. Die Kinder könnten so nicht selbständig werden. Nach ihrer Sicht muss man den Kindern quasi das Leben erst beibringen. Durch Regeln lernen die Kinder, sich in die Gesellschaft einzufügen. Sie lernen, was richtig und was falsch ist. Die Anhänger der Disziplin kreiden alles, was im menschlichen Miteinander falsch läuft der mangelnden "Erziehung" an.
Dagegen stehen die Eltern, die darauf vertrauen, dass Kindern ein Streben nach Selbständigkeit und harmonischem Miteinander angeboren ist. Häufig findet man unter diesen Eltern welche, die nach Bedarf stillen bis das Kind sich selber abstillt, die im Familienbett schlafen und die ihre Kinder in Tragetüchern oder anderen ergonomischen Tragehilfen tragen. Ich gehöre definitiv dieser zweiten Richtung an, lasse mich aber schon lange nicht mehr in die Verteidiger-Rolle drängen. Die einzigen Menschen, denen gegenüber ich meinen Standpunkt verteten muss, sind meine Kinder.
Wer nun diese Ansätze des Attatchment Parenting (Sears), der Gleichwürdigkeit (Juul) oder der Bindungtheorie (Bowlby) nicht kennt, wer nicht weiß, dass die WHO-Empfehlung mindestens zwei Jahre lang zu stillen für die ganze Welt gilt, und dass man Kindern das Durchschlafen nicht beibringen kann, der mag von dieser Vorstellung überfordert sein. Die gesellschaftliche Norm sind diese Dinge jedenfalls nicht. Und so darf man sich nicht wundern, wenn einem eine Welle der Empörung entgegenschwappt. Gerne wird dann auch angeführt, dass es das "früher" nicht gegeben hätte.
"Ein Kind gehört ins eigene Bett." - "Ich konnte nicht stillen, du wirst es auch nicht können." - "Gib dem Kind doch mal was richtiges zu essen." - "Das ist doch schlecht für den Rücken." - "Du verwöhnst das Kind."
Mich beschäftigt die Frage, woher diese Ansichten kommen. Sehe ich mir alte Bauernhäuser an, beispielsweise in einem Freilicht-Museum, sehe ich sofort, dass es nicht genug Zimmer für alle Bewohner gegeben haben konnte. Haben diese Menschen wirklich nur aus Armut zusammen geschlafen? Sehe ich mir an, welche Stillregeln den Müttern beispielsweise in den 1970ern auferlegt wurden, weiß ich genau, warum sie nicht stillen konnten. Und woher kommt eigentlich die Angst vor dem Verwöhnen und was heißt Verwöhnen überhaupt?
Seit 2007 beschäftige ich mich mit der Geschichte der Säuglingspflege. Ich sammele und studiere dafür hauptsächlich zeitgenössische Ratgeberliteratur. Vieles von dem, was heute gang und gäbe ist, war vor 200 oder auch vor 100 Jahren ganz anders. Vieles kann man in einem ganz anderen Licht sehen, wenn man die Entwicklung betrachtet, die dahinter steht. Manches ist erhellend und manches einfach nur traurig. Meiner Meinung nach ist die wichtigste Erkenntnis, die man aus der Geschichte der Säuglingspflege und der Kindererziehung gewinnen kann, die, dass wir alle Kinder unserer Zeit sind und die Informationen, die uns zur Verfügung stehen nutzen und auch nur diese nutzen können. So sind wir heute in der glücklichen Lage, uns übers Internet international austauschen zu können und uns alle erdenklichen Informationen zu besorgen. Wenn jedoch der stillunfreundliche Arzt und die gebieterische Schwiegermutter - um mal zwei gängige Klischees zu bemühen - quasi die einzigen Informationsquellen sind, die man hat, wie unendlich schwer muss es dann sein, nicht darauf zu hören? Niemand sollte sich verteidigen müssen, aber wir alle sollten ein offenes Ohr füreinander haben.