Dieser Artikel erschien zuerst in der Stillzeit 1/2010 (Vereinszeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen)

Heute geht der Trend zum Tragen. In einem gut gebundenen Tuch oder einer ergonomischen Tragehilfe wird der Körper des Kindes optimal gestützt und unterstützt. Das Tragen hat viele Vorteile. Von der körperlichen Nähe über die positiven Auswirkungen auf die physiologische Entwicklung bis zur Integration des Kindes in den Alltag [1]. Getragene Kinder weinen nachgewiesenermaßen weniger [2]. Außerdem macht es Freude und ist praktisch.

Dennoch ist der Kinderwagen für die meisten Eltern nicht wegzudenken. Das war selbstverständlich nicht immer so. Vielfach hört man, dass Queen Victoria den Siegeszug des Kinderwagens eingeleitet habe. Sie sei ein Vorbild für die Oberschicht gewesen und als die Reichen und Schönen Kinderwagen hatten, wollten alle einen haben. Das ist jedoch höchstens die halbe Wahrheit. Vielmehr waren es hauptsächlich die Ärzte, die die Vorteile des Kinderwagens priesen und die jungen Mütter anhielten, sich einen anzuschaffen.

Der Kinderwagen wurde nicht als Alternative zum Tragen entwickelt. Er ging aus dem Stubenwagen hervor, welcher eine Alternative zu den gebräuchlichen Wiegen darstellte. Hufeland berichtete 1830, dass es um die Wiegen große Diskussionen gegeben hatte. Die einen bezeichneten das Wiegen als "die unschädlichste, ja heilsamste Sache" [3, S.63]. Die anderen versicherten, dass "es die Kinder dumm mache" [ebenda]. Hufeland selber hielt beides für übertrieben. Auch Friedrich August von Ammon berichtete vom Streitfall Wiege [4, S.168]. Genau wie Hufeland sah er langames, gemäßigtes Wiegen als unschädlich an. "Daraus folgt aber noch keineswegs, daß man zur Aufziehung eines Kindes das Wiegen nicht entbehren könnte, ein Satz, den viele Mütter vertheidigen und dadurch zu befestigen suchen, daß sie den allgemein verbreiteten Gebrauch der Wiegen oder diesen ähnlicher Vorrichtungen, selbst unter den rohesten Nationen, vorwenden." [4, S.169]

Hufeland lobt den Stubenwagen als "eins der nützlichsten und nothwendigsten Meubles bei kleinen Kindern" [3, S.64]. Schließlich macht es nicht nur das Wiegen, sondern durch seine Mobilität auch das "beständige Herumtragen entbehrlich" [3, S.65]. Das Tragen ist seiner Meinung nach nicht nur "höchst beschwerlich, sondern auch dem Kinde durch die zu große Wärme, das einseitige Tragen, die Ausdünstungen des Tragenden, nachtheilig" [3, S.65]

Das am häufigsten gegen das Tragen angebrachte Argument war, dass es die Kinder schief mache. Gerade in den ersten Lebenswochen- und monaten war man äußerst besorgt darum. Die Mütter wurden daher angehalten, ihre Kinder, wenn überhaupt, nur eingewickelt oder liegend zu tragen, z.B. in einem Körbchen, in einer Matratze oder in sogenannten Steck- oder Tragebetten. Gleichzeitig war man sich bewusst, dass es für das Kind nicht gut ist, seiner Bewegungsfreiheit beraubt zu sein. Das Liegen galt daher als beste Position für die Kleinen.

Auch der Tragemantel, der häufig von Wärterinnen (Kindermädchen) benutzt wurde, wurde kritisiert. "Das Tragen im Mantel, worin das Kind eigentlich hängt und mit eingepreßten, gekrümmten Beinen und schiefgedrängter Hüfte den Oberkörper balancirt, geschieht gewöhnlich auf einer Seite, der linken der Wärterin; in dieser abnormen Lage verweilt das Kind oft täglich stundenlang und, wenn es einschläft, sinkt es mit verdrehtem Rückgrat in sich gebogen zusammen auf die Schulter und die Brust der Wärterin." [5, S.225]

Ab dem Sitzalter pflegten die Kinder den größten Teil des Tages auf den Armen der Mutter oder einer Wärterin zu zubringen. [4, S.164]. Auch jetzt noch sind die Ärzte um das gerade Wachstum der Kinder besorgt. Wenn man liest, wie die Kinder üblicherweise getragen wurden, kann man diese Sorge gut nachvollziehen. "Gewöhnlich nämlich trägt die Wärterinn das Kind auf dem linken Arm, indem sie mit der Hand die Beine des Kindes umfaßt. Meistens lehnt sich das Kind mit dem Körper gegen die Brust und den Hals der Tragenden, umfaßt auch wohl den Nacken mit dem rechten Arme. Der Körper des Kindes erhält dadurch eine schiefe Richtung, das Schulterblatt und die eine Seite der Brust wird dadurch nothwendig schief in die Höhe gezogen; das Rückgrat wird seitwärts gekrümmt, durch den anhaltenden Druck auf die Hüften des Kindes werden die noch biegsamen und nachgiebigen Beckenknochen verschoben, durch die beständige Krümmung der Beine, werden die ausstreckenden Muskeln der Beine geschwächt, und dadurch unvermeidlich schiefe Beine veranlaßt." [6, S. 249f] Offenbar war es üblich, das Kind auf dem Arm sitzend und nicht etwa auf der Hüfte zu tragen, denn in allen Schriften wird nur diese Trageweise erwähnt. Neben dem Schiefwerden barg dies auch die Gefahr des Herunterfallens.

Da lag es nicht mehr fern, auch draußen zu schieben statt zu tragen. So sollte man meinen. Die Stubenwagen waren nicht gefedert und daher nicht für den Gebrauch auf der Straße geeignet. Das sahen auch die Ärzte so. Als es dann schließlich Kinderwagen gab, die geeignet waren, waren zwar die Ärzte begeistert, doch der Kinderwagen musste sich trotz aller guten Argumente erst durchsetzen. Klencke schreibt 1875, dass es in einigen Städten sogar polizeilich verboten war, Kinderwagen auf dem Trottoir zu benutzen. [5, S.150f]. Von ihm erfahren wir auch, dass es besonders die professionellen Kinderwärterinnen waren, die sich gegen die Kinderwagen sträubten. "So sehr es wünschenswerth ist, daß der Kinderwagen den Kindermantel der Wärterin ersetze, so giebt es doch noch vorurtheilsstarre oder zu nachsichtige Mütter, welche den Mantel, dieses Kleidungsstück, welches viele Krüppel aus sich hervorgehen ließ, noch dulden, namentlich weil Wärterinnen nicht gern mit dem Wagen ausgehen; jüngere können mit diesem Fuhrwerk nicht überall heimlich hinschlüpfen, wo sie nicht hin sollten, in dumpfe Stuben ihrer Bekannten und Verwandten, auf Plätze des Stelldichein; ältere Wärterinnen halten es unter ihrer Würde, 'in der Karre zu fahren', und stolziren lieber im Mantel mit langem Behänge umher, um ihr Kind zu repräsentiren und sich dem Publikum zu empfehlen." [5, S.224f]

Wie sehr ähnelt doch der Weg des Kinderwagens damals dem des Tragetuchs und der Tragehilfen heute. Die "Karre" ist nun das Statussymbol wie damals der Mantel. Tücher hingegen werden für "öko" und umständlich gehalten. Andere schimpfen auf den Kinderwagen im gleichen Maße wie auf die Wiege geschimpft wurde. Der Kinderwagen halte das Kind auf Distanz; das Liegen entspräche nicht dem Körperbau; der Gleichgewichtssinn würde nicht geschult; bei den "Urvölkern" werde auch getragen. Das sind nur einige der Punkte, die angeführt werden. Die Parallelen sind unverkennbar.

Doch egal, ob man nun wiegt, schiebt oder trägt, "so lehrt doch die tägliche Erfahrung sattsam, daß nur wenige Kinder gern allein sind, daß sie im Gegentheil sich nur auf dem Arme oder an der Hand der Mutter oder der Wärterin glücklich zu fühlen scheinen." [4, S.160] "Obwohl eine Bewegung, welche das Kind durch den Korbwagen erhält, der des Tragens weit vorzuziehen ist, so ist ihm dieses letztere doch ebenfalls ein Bedürfnis, das von Zeit zu Zeit befriedigt werden soll. (...) Nach den ersten Wochen darf man dem Kleinen, hauptsächlich aber sich selbst das Vergnügen gewähren, es täglich eine ganz kurze Zeit herumzutragen, (...)" [7, S.100] Tragen ist eben schön und kann durch nichts ersetzt werden. Und mit einer geeigneten Tragehilfe hat man noch viel mehr davon.

Literatur

[1] Ein Baby will getragen sein, Dr Evelin Kirkilionis, Kösel, München 1999

[2] Der Einfluß des Tragens auf das Schreiverhalten des Säuglings, Dr Urs A. Hunziker, Kinderspital Zürich, Studie

[3] Guter Rath an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren nebst einem Unterrichte für junge Eheleute die Vorsorge für Ungeborene betreffend, Christ. Wilh. Hufeland, K. Preuß. Staatsrath und Leibarzt, Dritte vermehrte rechtmäßige Auflage, Basel und Leipzig, H. A. Rottmann, 1830

[4] Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, Dr. Friedrich August von Ammon, 6. verbesserte Auflage, Verlag S. Hirzel, Leipzig, 1854

[5] Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne zur physischen und sittlichen Gesundheit vom ersten Kindesalter bis zur Reife, Dr. med. Hermann Klencke, zweite, neu durchgearbeitete Auflage, Verlag Eduard Kummer, Leipzig, 1875

[6] Taschenbuch für Mütter über die physische Erziehung der Kinder in den ersten Lebensjahren und über die Verhütung, Erkenntniß und Behandlung der gewöhnlichen Kinderkrankheiten, Adolph Henke, K. Bayer. Hofrath u. Professor der Medicin in Erlangen, Band 1, 2. Auflage, Friedrich Wilmans Verlagshandlung, Frankfurt am Main, 1832

[7] Das Buch der Mütter - Eine Anleitung zu naturgemäßer und geistiger Erziehung der Kinder und zur allgemeinen Krankenpflege, M.S. Kübler (Frau Scherr), dritte, umgearbeitete und ergänzte Auflage, Leipzig, Verlag von Abel & Müller, 1891