Im Kaiserreich wurde 1874 eine Impfpflicht zur Ausrottung der Pocken eingeführt. Dies ist der dazugehörige Gesetzestext.
§ 1. Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen werden
1) jedes Kind vor dem Ablaufe des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugniss (§ 10) die natürlichen Blattern überstanden hat;
2) jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegt, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugniss in den letzten 5 Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist.§ 2. Ein Impfpflichtiger, welcher nach ärztlichem Zeugniss ohne Gefahr für sein Leben oder für seine Gesundheit nicht geimpft werden kann, ist binnen Jahresfrist nach Aufhören des diese Gefahr begründenden Zustandes der Impfung zu unterziehen.
Ob diese Gefahr noch fortbesteht, hat in zweifelhaften Fällen der zuständige Impfarzt (§ 6) endgültig zu entscheiden.§ 3. Ist eine Impfung nach den Urtheile des Arztes (§ 5) erfolglos geblieben, so muss sie spätestens im sechsten Jahre und, falls sie auch dann erfolglos bleibt, im dritten Jahre wiederholt werden.
§ 4. Ist die Impfung ohne gesetzlichen Grund (§§ 1, 2) unterblieben, so ist sie binnen einer von der zuständigen Behörde zu setzenden Frist nachzuholen.
§ 5. Jeder Impfling muss frühestens am sechsten, spätestens am achten Tage nach der Impfung dem impfenden Arzte vorgestellt werden.
§ 6. In jedem Bundesstaate werden Impfbezirke gebildet, deren jeder einem Impfarzte unterstellt wird.
Der Impfarzt nimmt in der Zeit vom Anfang Mai bis Ende September jeden Jahres an den vorher bekannt zu machenden Orten und Tagen für die Bewohner des Impfbezirks Impfungen unentgeltlich vor. Die Orte für die Vornahme des Impfungen, sowie für die Vorstellung der Impflinge (§ 5) werden so gewählt, dass kein Ort des Bezirks von dem nächst belegenen Impforte mehr als 5 Kilometer entfernt ist.§ 7. Für jeden Impfbezirk wird vor Beginn der Impfzeit eine Liste der nach § 1, Ziffer 1, der Impfung unterliegenden Kinder von der zuständigen Behörde aufgestellt. Ueber die auf Grund des § 1, Ziffer 2, zur Impfung gelangenden Kinder haben die Vorsteher der betreffenden Lehranstalten eine Liste anzufertigen.
Die Impfärzte vermerken in den Listen, ob die Impfung mit oder ohne Erfolg vollzogen oder ob und weshalb sie ganz oder vorläufig unterblieben ist.
Nach dem Schlusse des Kalenderjahres sind die Listen der Behörde einzureichen.
Die Einrichtung der Listen wird durch den Bundesrath festgestellt.§ 8. Ausser den Impfärzten sind ausschliesslich Aerzte befugt, Impfungen vorzunehmen.
Sie haben über die ausgeführten Impfungen in der im § 7 vorgeschriebenen Form Listen zu führen und dieselben am Jahresschluss der zuständigen Behörde vorzulegen.§ 9. Die Landesregierungen haben nach näherer Anordnung des Bundesraths dafür zu sorgen, dass eine angemessene Anzahl von Impfinstituten zur Beschaffung und Erzeugung von Schutzpockenlymphe eingerichtet werde.
Die Impfinstitute geben die Schutzpockenlymphe an die öffentlichen Impfärzte unentgeltlicht ab und haben über Herkunft und Abgabe derselben Listen zu führen.
Die öffentlichen Impfärzte sind verpflichtet, auf Verlangen Schutzpockenlymphe, soweit ihr entbehrlicher Vorrath reicht, an andere Aerzte unentgeltlich abzugeben.§ 10. Ueber jede Impfung wird nach Feststellung ihrer Wirksamkeit (§ 5) von dem Arzte ein Impfschein ausgestellt. In dem Impfschein wird, unter Angabe des Vor- und Zunamens des Impflings, sowie des Jahres und Tages seiner Geburt, bescheinigt, entweder
dass durch die Impfung der gesetzlichen Pflicht genügt ist, oder
dass die Impfung im nächsten Jahre wiederholt werden muss.
In den ärztlichen Zeugnissen, durch welche die gänzliche oder vorläufige Befreiung von der Impfung (§ 1, 2) nachgewiesen werden soll, wird, unter der für den Impfschein vorgeschriebenen Bezeichnung der Person, bescheinigt, aus welchem Grunde und auf wie lange die Impfung unterbleiben darf.§ 11. Der Bundesrath bestimmt das für die vorgedachten Bescheinigungen (§ 10) anzuwendende Formular.
Die erste Ausstellung der Bescheinigung erfolgt stempel- und gebührenfrei.§ 12. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder sind gehalten, auf amtliches Erfordern mittelst der vorgeschriebenen Bescheinigungen (§ 10) den Nachweis zu führen, dass die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem gesetzlichen Grunde unterblieben ist.
§ 13. Die Vorsteher derjenigen Schulanstalten, deren Zöglinge dem Impfzwange unterliegen (§ 1, Ziffer 2), haben bei der Aufnahme von Schülern durch Einfordern der vorgeschriebenen Bescheinigungen festzustellen, ob die gesetzliche Impfung erfolgt ist.
Sie haben dafür zu sorgen, dass Zöglinge, welche während des Besuches der Anstalt nach § 1, Ziffer 2, impfpflichtig werden, dieser Verpflichtung genügen.
Ist eine Impfung ohne gesetzlichen Grund unterblieben, so haben sie auf deren Nachholung zu dringen.
Sie sind verpflichtet, vier Wochen vor Schluss des Schuljahrs der zuständigen Behörde ein Verzeichniss derkenigen Schüler vorzulegen, für welche der Nachweis der Impfung nicht erbracht ist.§ 14. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, welche den nach § 12 ihnen obliegenden Nachweis zu führen unterlassen, werden mit einer Geldstrafe bis zu zwanzig Mark bestraft.
Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, deren Kinder und Pflegebefohlene ohne gesetzlichen Grund und trotz erfolgter amtlicher Aufforderung der Impfung oder der ihr folgenden Gestellung (§ 5) entzogen geblieben sind, werden mit Geldstrafe bis zu fünfzig Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen bestraft.§ 15. Aerzte und Schulvorsteher, welche den durch § 8, Absatz 2, § 7 und durch § 13 ihnen auferlegten Verpflichtungen nicht nachkommen, werden mit Geldstrafe bis zu einhundert Mark bestraft.
§ 16. Wer unbefugter Weise (§ 8) Imfpungen vornimmt, wird mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit Haft bis zu vierzehn Tage bestraft.
§ 17. Wer bei Ausführung einer Impfung fahrlässig handelt, wird mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Mark oder mit Gefängnisstrafe bist zu drei Monaten bestraft, sofern nicht nach dem Strafgesetzbuch eine härtere Strafe eintritt.
§ 18. Die Vorschriften dieses Gesetzes treten mit dem 1. April 1875 in Kraft.
Die einzelnen Bundesstaaten werden die zur Ausführung erforderlichen Bestimmungen treffen.
Die in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Bestimmungen über Zwangsimpfungen bei dem Ausbruch der Pockenepidemie werden durch dieses Gesetz nicht berüht.
zitiert aus: Die Vaccination. Ihre experimentellen und erfahrungsgemäßen Grundlagen und ihre Technik mit besonderer Berücksichtigung der animalen Vaccination, Dr. L. Pfeiffer, geh. Med.-Rath und Vorstand des großh. sächs. Impfinstitutes in Weimar, Tübingen 1884, S. 154ff