Die Frage nach dem Beginn des Lebens ist im Christentum bei zwei Ereignissen besonders relevant: bei der Nottaufe und bei der Abtreibung.
Nottaufe
War bei einer Geburt das Leben des Kindes in Gefahr, so waren Hebammen bis ins 20. Jahrhundert hinein angehalten, die Nottaufe zu geben. Doch nicht nur die Geburt kann für das Kind tödlich sein. Es kann auch mit Fehlbildungen auf die Welt kommen, die nicht mit dem Leben vereinbar sind. Solche Kinder wurden als "Mißgeburt" bezeichnet. Je nach Grad der Fehlbildung wurde dem Kind das Menschsein aberkannt. In diesem Falle durften die Hebammen auch keine Nottaufe vollziehen, da das heilige Sakrament der Taufe Menschen vorbehalten ist.
Hebammen mussten demnach darin unterrichtet werden, wie sie die Entscheidung für oder gegen die Nottaufe zu fällen hatten. Im Hebammen-Lehrbuch von Johann Storch von 1746 lesen wir:
"Von solcherley Mißgeburten muß nun eine Heb=Amme eine gute Erkaͤntniß haben, und zwar um deshalber, damit sie 1) das Sacrament der Heil. Taufe nicht mißbrauche, und die Noth=Taufe nicht etwa einem unfoͤrmlichen Fleisch=Klumpen, oder gar einem viehischen Monstro, so keine menschliche oder vernuͤnftige Seele in sich hat, gebe. Oder 2) in Ansehung der Hermaphroditen oder Zwitter bey der Taufe dem maͤnnlichen Geschlechte einen weiblichen, oder dem weiblichen Geschlechte einen maͤnnlichen Namen geben lasse: 3) Wenn an= oder in einander gewachsene Zwillinge lebendig gebohren werden, daß solche nicht einfach, sondern jedes allein getauft werde."
Johann Storch gibt den Hebammen auch Anweisungen darüber, wie sie zu handeln haben, wenn das Neugeborene kein Mensch sei. Er stellt die Frage nach der Tötung und schließt, dass alles, was mit einer Nabelschnur geboren wird, von der Hebamme versorgt werden müsse, und alles weitere der Obrigkeit überlassen solle. Denn Mißgeburten waren meldepflichtig.
Im Zweifelsfall, wenn also die Hebamme nicht sicher sein konnte, ob das Neugeborene "eine menschliche oder viehische Seele" habe, sollte sie die Taufe dem Geistlichen überlassen. Anscheinend war es schlimmer ein Tier zu taufen als einen Menschen ungetauft sterben zu lassen, obwohl letzteres bedeutete, dass ein Kind in die Hölle käme.
Abtreibung
Eine Abtreibung vorzunehmen oder Beihilfe dazu zu leisten, wurde in der Vergangenheit mit dem Tod bestraft. Doch nur dann, wenn der Fötus gelebt hatte. Ansonsten gab es keine oder eine mildere Strafe. So wie in dieser Gesetzgebung durch Herzog August von Sachsen 1572:
"WAnn vorsetzlich durch Getrenck oder sonsten Leibesfrücht / die da in Mutterleibe lebendig gewesen / abgetrieben / So sol die Mistheterin am leben / vnd die / so darzu mit trencken / oder in andere gestalt geholffen / mit dem Schwerd gestrafft werden.
Do aber die frucht nicht gelebet / vnd solchs noch vnter der helffte nach der empfengnus geschehen / Oder aber das / was zum abtreiben genomen / keine wirckunge gehabt oder das abgetriebene kein kind gewesen / So sol sie wilkuͤrlich mit staupen schlegen / vorweisung oder gefengnus / nach gestalt der vorbrechung / gestrafft werden."
Besonders wichtig ist hier der Hinweis auf die erste Hälfte der Schwangerschaft. Denn das Leben begann erst mit den ersten fühlbaren Kindsbewegungen! Auch Johann Storch berichtet 1746 noch davon:
"In den Rechten wird zwar der Unterscheid beobachtet, daß die Abtreibung einer Frucht vor der Helfte des Schwangergehens nicht mit dem Leben zu strafen sey; sondern nur diese, welche nach der Helfte geschiehet, welches noch daher ruͤhret, weil man vor diesem im Pabstthume noch davor gehalten, daß kein Kind im Mutter=Leibe restlich die Seele und das Leben bekaͤme, wenn man die Bewegung von ihm fuͤhlen koͤnnte. Allein, weil man heutiges Tages mit mehrerm versichert ist, daß ein Kind mit der Empfaͤngniß die Seele und das Leben bekomme, so moͤgen zwar Advocaten aus solchen irrigen Gruͤnden schuldige Personen noch defendiren, und sie von der Todes=Strafe befreyen, das gewissen aber ist deshalber von begangenem Morde nicht ledig zu sprechen."
Das bedeutet, dass die Rechtsprechung noch lange den Beginn des Lebens auf die Mitte der Schwangerschaft legte, während die katholische Kirche ihre Meinung dahingehend geändert hatte, dass das Leben mit der Empfängnis beginne. Denn selbst als August von Sachsen seine Gesetze erließ, brannte die Diskussion über den Beginn des Lebens bereits.
Dabei ging es nicht nur um Kindsbewegungen und Empfängnis. Alle möglichen Zeitangaben wurden diskutiert. Einige Gelehrte wollten sogar einen Unterschied zwischen den Geschlechtern machen.
"Nach etlicher Gelehrten meynung / wird am dreyssigsten / oder zum hoͤchsten am fuͤnff vnd dreyssigsten Tage / nach geschehener Empfaͤngniß/der Frucht das Leben eingegossen. Aber andere meynen / daß ein Mannliche am vierzigsten / vnd ein Weibliche Frucht nicht ehe dann am achtzigsten Tage / mit dem Leben begabt werde."
Praxis Rervm Criminalium, Band 2, 1581
Übrigens gibt es im Englischen den Begriff des quickening. Dieser bezeichnet das erste Spüren der Kindsbewegungen und wurde ebenfalls mit dem Beginn des Lebens gleichgestellt.