In seinem Buch "Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit" widmete Gustav Temme 1908 den Kindern der Fabrikarbeiterinnen ein eigenes Kapitel. Nicht ohne Grund.
In der wachsenden Industrialisierung waren immer mehr Frauen gezwungen, in Fabriken arbeiten zu gehen. Die Armut trieb sie dazu. Es gab kaum genug zu Essen. Die Armut verhinderte auch, dass sie sich angemessene Kinderbetreuung leisten konnten. Die Folgen waren verheerend für die Kinder.
"Aus Wasungen in Thüringen berichtet der dortige Physikus Dr. Wegener, daß auf Grund der ungemein schlechten, sozialen Verhältnisse ein großer Teil der Bevölkerung vorwiegend von Brot, Kartoffeln und Schnaps lebe. Den letzteren trinken nicht nur die Erwachsenen, Männer wie Frauen, sondern man streicht ihn, mit Zucker vermischt, den Schulkindern auf das Brot (sogenannte Schnapsweiche) als ersatz für Fett, Schmalz, Butter, Obstmus, und gibt den Säuglingen Gummisauger, welche ebenfalls mit Schnaps und Zucker gefüllt und verkorkt werden."
Ebenso bekamen die Kinder nachts aus getrockneten Mohnblättern gewonnenen "Beruhigungstee", damit die erschöpften Mütter schlafen konnten.
Und wer passte tagsüber auf die Kinder auf?
"Ausführliches Material über die Kinder der in Fabriken arbeitenden Frauen hat Dr. Feld von der Zentralstelle für private Fürsorge in Frankfurt a.M. beschafft. Er hat besonders Krimmitschauer Verhältnisse untersucht. Dort waren 1903/04 2000 Arbeiterinnen beschäftigt, darunter 1209 Mütter mit 1462 Kindern, dazu kommen noch die Kinder von Ledigen, so daß im ganzen 1605 Kinder zu versorgen waren. 38,8% waren unter 6 Jahre alt. (In Magdeburg 40,6%, in Kassel 51,6%, in Erfurt 48,9%, im Reiche 47,1%)
39,2% versorgten die Großmütter, 26,5% fremde Personen. Daß diese Versorgung meist ungenügend ist, zeigt der Umstand, daß die Versorgung zu 32% unentgeltlich, bei 23% gegen eine Entschädigung von höchstens 2 Mark wöchentlich geschieht. Dabei ist ein Fünftel dieser versorgten Kinder noch nicht ein Jahr alt.
6,3% der unehelichen Fabrikarbeiterinnen-Kinder sind ohne alle Aufsicht. Von allen Arbeiterinnen-Kindern Krimmitschaus wachsen 30,9% ohne alle und jede Aufsicht und Verpflegung auf. Es ist unglaublich und doch grausame, entsetzliche Tatsache: Mütter müssen sogar ihre Säuglinge tagsüber ohne Aufsicht verlassen, weil bitterste Not sie in die Fabriken treibt, wo sie gegen erbärmlichen Lohn die Existenzmittel errinen müssen, während daheim das hilflose junge Wesen, dem sie kaum das Leben gegeben, verkümmert und in Schmutz verdirbt, sich zur Qual und der müden Mutter zur Last."
Temme beklagt außerdem die katastrophalen Arbeitsbedingungen. Elf Stunden mühselige Arbeit am Tag waren keine Seltenheit und Schwangere mussten bis zur Geburt arbeiten. Die sechs Wochen Wochenbett, die ihnen zustanden, wurden selten eingehalten.