Erziehung in der Nazi-Zeit war hart, distanziert und traumatisch. Schwarze Pädagogik ist ein weit bekannter Begriff. Doch was geschah bei der "Entnazifizierung" nach dem Krieg? Wurde die Nazi-Erziehung auch entsorgt? Leider nein. Sie wurde nur abgemildert.
Es ist mittlerweile weit bekannt, dass Johanna Haarers Werk "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" nach dem Krieg und bis weit in die 1980er Jahre hinein unter dem Titel "Die Mutter und ihr erstes Kind" erschien. Eindeutige Bezüge zu Hitler und dem Nationalsozialismus wurden zwar getilgt, doch inhaltlich wurde es kaum verändert. Das war aber auch nicht wirklich nötig. Haarer war längst nicht so streng, wie allgemein angenommen. Zum einen nimmt die Erziehung nur einen sehr kleinen Teil des Buches ein. Vieles, was über Schwangerschaft, Entbindung, Ausstattung fürs Kind und das Wochenbett in dem Buch steht, sind einfach Informationen und Tipps nach damaligem Stand und vieles ist auch aus heutiger Sicht hilfreich.
Es ist vergleichbar mit dem Streit um das Buch "Jedes Kind kann schlafen lernen" von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth, das 1995 zum ersten Mal erschien und noch in demselben Jahr in die 9. Auflage ging. Darin wird für das vom Amerikaner Richard Ferber entwickelte Schlaflernprogramm geworben. Manche Verfechter'innen des Buches stehen auf dem Standpunkt, dass sie sich ja nur die guten Informationen aus dem ersten Teil des Buches heraus nehmen würden und das Schlafprogramm nicht oder nicht so hart wie beschrieben durchzögen. Wir haben hier also ein Buch, das sich gut verkauft und das durchaus gute Informationen enthält. Soll es der Verlag wegen einem kleinen Teil umstrittener Punkte aus dem Sortiment nehmen? Und ist es dabei egal, wie schlimm diese umstrittenen Punkte sind? Umstritten bedeutet ja auch, dass es Beführworter'innen gibt. Da steht also Meinung gegen Meinung gegen Profit.
Zurück zu Haarer. Vergleichen wir ein Zitat aus ihrem Buch mit einem anderen aus der Nazizeit.
"So wenig wir uns in den Säugling hineindenken und uns mit ihm verständigen können, so rasch lernt doch die Mutter, das Schreien ihres Kindes zu beurtheilen. Bald hört sie, ob es sich aus irgendeinem Grunde unbehaglich fühlt (Windelwechsel nötig!), ob es nur ärgerlich und gereizt ist, obe es Hunger hat. Ganz anders klingt sein Schreien, wenn es Schmerzen hat. Häufig aber handelt es sich um keine von all diesen Arten des Schreiens. Es bleibt oft nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es aus Anlage, Gewohnheit oder geradezu zum Zeitvertreib schreit.
Was in aller Welt ist da zu tun? Die Mutter, die mit Ernährung und Pflege ihres Kindes ihre Pflicht tut, nehme vor allem die Sache nicht allzu tragisch. Man greift in solch einem Fall, so wenig 'modern' es auch ist, hin und wieder eben doch zum Schnuller. (...hier folgen Hygienevorschriften für den Schnuller)
Der Schnuller stoppt in vielen Fällen das Schreien sofort. (... hier folgen Gründe gegen das Daumenlutschen)
Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett zu nehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, daß es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird - und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.
(... Tipps zur Durchführung. Warung davor, dass Großmütter zu weichherzig sind, Überleitung zum schreienden Kind in der Nacht)
Bei sehr kleinen und zarten Kindern bleibt, besonders, wenn sie schlecht zunehmen und nachts hartnäckig schreien, ein Ausweg, der natürlich immer hilft: Auch nachts einmal stillen! Dies ist natürlich sehr angreifend für die Mutter. Immerhin ist es aber weniger aufreibend, als stundenlang wach zu liegen und seinen Säugling schreien zu hören. Auch hier besteht die Gefahr der Gewöhnung, die aber doch nicht überschätzt werden darf. Denn wenn das Kind infolge der nun reichlicheren Ernährung gut zunimmt, so schäft es von selbst immer länger, und die Idealforderung der Ärzte und geschulten Schwestern - 8 Stunden Pause für Mutter und Kind - wird Schritt für Schritt allmählich erreicht.
Bei großen kräftigen Kindern sei der Mutter abermals der Rat gegeben: Schreien lassen! (...) Nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, daß ihm sein Schreien nichts nützt, und ist still. (...)
Sollte es aber auf keine Weise gelingen, ungestörte Nächte zu erzielen, so bleibt dir, liebe Mutter, doch ein Trost: Je älter das Kind wird, desto weniger schreit es. Eines Nachts wird es plötzlich von selbst durchschlafen, wenn du es nur nicht gar zu sehr verwöhnt hast. Denn so leicht in der Theorie das Gebot der 8stündigen Nachtruhe aufzustellen ist, so schwer ist es mitunter, im Privathaushalt zu Ziele zu kommen."
Das Zitat stammt aus der Ausgabe von 1934. Vergleichen wir es mit diesem hier von 1940:
"Und nun die wichtige Frage: 'Was tun, wenn das Kind schreit?' - Es schreit, wenn es naß ist oder den Darm entleerte und trocken gelegt zu werden wünscht. Mitunter protestiert es auch durch Geschrei, wenn Lärm seine Ruhe störte, wenn es friert oder zu warm ist und schwitzt. es schreit, wenn es Hunger hat, regelmäßig vor jedem Stilltermin; in diesem Falle, besonders aber wenn es auch /nach/ dem Stillen schreit, mag man untersuchen, ob es ausreichend Nahrung bekommt. Es schreit ferner, wenn es Durst hat oder auch bei Verdauungsbeschwerden; man beseitigt den Durst und beruhigt die Verdauungsorgane durch Fenschel- Kamillen- oder Pfeffermiztee ( schwarzer Tee ist zu meiden); immer sei der Tee recht dünn und ein wenig gesüßt. Das Kind schreit auch, wenn seine Haut wund ist; dann muß die Stelle geölt und gepudert werden. Manchmal schreit es, weil es gerade nichts besseres zu tun hat. Meist wird die Mutter schon nach kurzer Zeit den Grund der Unruhe leicht ermitteln. Im übrigen verwöhne die Mutter ihr Kind nicht zu sehr, indem sie regelmäßig auch dann zur Stelle ist, wenn das Kind alle paar Minuten schreit, weil es lediglich beschäftigt und umhergetragen werden wünscht. Dann muß sich die Mutter bei dem kleinen Tyrannen energisch durchsetzen: dann fort mit ihm in des entlegenste Zimmer und - schreien lassen! Bald merkt das Kind, daß es seinen Willen (jawohl: es /hat/ schon einen Willen!) nicht durchsetzen kann und wird artig sein."
Dieses Zitat stammt aus "Der deutschen Mutter - Ein Ratgeber für alle Fragen der werdenden Mutter, der Geburt, der Geburtshilfe und der Säuglingspflege" von Hanns Sylvester Stürgkh, einer Sonderschrift der Zeitschrift "Gesundes Volk". Mitherausgeber war die NSDAP und es wurde von den Krankenkassen verteilt; 1940 bereits in der 25. Auflage (Erstauflage 1936).
Ähnliches lesen wir beim Kinderarzt Dr. Planner-Wildinghof 1943:
"Wer ein ruhiges und braves Kind haben will, muß dasselbe vom ersten Lebenstage an erziehen. Wer diesen Rat nicht befolgt, wird sich seinen Liebling zum Tyrannen machen, der während einer Krankheit die Mutter zur Verzweiflung bringt. Und es verlangt diese Erziehung in den ersten Monaten nichts Besonderes; wer sein Kind ruhig im Bettchen sich selbst überläßt, es nur zur Mahlzeit, die nicht bei jedem Schrei (es ist ein Unfug, jedes Schreien des Säuglings als Hunger und als Verlangen nach Nahrung zu deuten), sondern erst nach der entsprechenden Pause gereicht wird, oder zum Trockenlegen herausnimmt, das viele Sprechen mit demselben, das beliebte ständige Herumtragen, Wiegen, Fahren, grelle Geräusche und Lärm vermeidet, es weder zur Nahrungsaufnahme noch aus sonst einem Grunde weckt, tut das Richtige. Ein einmal verzogenes Kind ist schwer zurechtzubringen."
"Das Kind - der Mutter Glück, der Mutter Sorge", Planner-Wildinghof, 1943
Noch deutlicher wird Dr. med. Gerhard Ockel in "Moderne Kinderpflege - Von Säugling bis zum Schulkind" (ca 1930):
"27. Darf ich das Kind längere Zeit schreien lassen?
Wenn gewissenhafte Prüfung Langeweile infolge Verwöhnung ergibt, ruhig ausschreien lassen, falls nicht Hausherr oder Nachbar protestieren (z.B. nachts).
Verwöhnung durch Schaukeln und Insbettnehmen von sehr ungünstiger erzieherischer Wirkung, daher wenn irgend möglich vermeiden!
Verwöhnungsschreien weist deutlich auf grundsätzliche fehlerhafte erzieherische Haltung der Mutter hin. Höchste Gefahr für grundlegende Charakterbildung im Verzug! Pädagogischen Rat einholen!"
Keiner der Herren rudert in ähnlicher Weise zurück und beruhigt die Mutter, dass schon alles gut werden würde, wie es Johanna Haarer tut. Es war also sehr einfach, ihr Werk nach dem Krieg weiter zu vertreiben. Die anderen drei Werke veschwanden in der Versenkung.
Ein anderer Garant für das Fortbestehen eines Buches war ein großer Name. Adalbert Czernys "Der Arzt als Erzieher des Kindes" erschien in der ersten Auflage bereits 1908. Es erschien durchgängig bis 1946, obwohl Czerny schon 1941 verstorben war. Möglicherweise wäre es ansonsten noch länger verlegt worden. Czerny nennt einen Grund gegen das Schreienlassen, aber dieser ist rein körperlicher Natur. Das folgende Zitat ist in der ersten und der letzten Ausgabe identisch.
"Oft wird die Erziehung eines Kindes damit begonnen, daß man es veranlassen will, eine größere Nachtpause einzuhalten oder überhaupt den größten Teil der Nacht durchzuschlafen. Dies wird in der Weise zu erreichen versucht, daß man die Kinder in der Nacht schreien läßt und sie allenfalls trocken legt, aber ihre Unruhe weder durch Nahrungsverabreichung, noch durch andere Prozeduren, wie Schaukeln oder Herumtragen zu beseitigen versucht. Bei einzelnen Kindern wird durch diese energische Methode tatsächlich erreicht, daß sie sich nach mehreren unruhigen Nächten in ihr Schicksal fügen und die Nacht durchschlafen. Bei einem Teil der Kinder gelingt es aber nicht, den gleichen Effekt zu erreichen, sondern sie schreien jede Nacht, oft sehr lange, bis sie schließlich vor Ermüdung auch in Schlaf verfallen. Wäre diese Erziehungsmaßregel vollständig unschädlich, so könnte man als Arzt zu derselben schweigen. Tatsächlich ist dies aber nicht der Fall, denn bei Kindern, bei denen die notwendigen anatomischen Grundlagen vorhanden sind, wird durch das starke Schreien die Entstehung von Hernien begünstigt, und ich konnte selbst unter solchen Umständen die Entstehung von Brucheinklemmung beobachten. Auch ohne derartige unliebsame Vorfälle führt das Schreienlassen der Kinder in der Nacht nicht dazu, ihnen im frühesten Alter den Begriff der Nachtruhe beizubringen. Unter diesen Umständen ist stets eine strenge Revision der Ernährung notwendig."
Doch nicht nur durch Ratgeberliteratur, die sich direkt an die Eltern wendet, hatten Ärzte einen großen Einfluss auf den Umgang mit Kindern. Der Kinderarzt Werner Catel schrieb zwar selber keine Ratgeber, aber er schrieb das Vorwort zu Hannah Uflackers Buch "Mutter und Kind" von 1956 (1. Auflage, 5. Auflage 1957). Darin steht zum Beispiel:
"Zu Beginn des Stillens ist es oft schwierig, zu errreichen, daß der Säugling die achtstündige Nahrungspause während der Nacht einhält. Meist wird er um 2 Uhr nachts wacch und schreit, da er an den vierstündigen Tagesrhythmus gewöhnt ist. Wenn es sich um ein kräftiges Kind handelt, ist es das beste, es schreien zu lassen. Bei ungünstigen Wohnverhältnissen ist es aber oft unmöglich, vor allem, wenn mehrere Familienmitglieder mit dem Säugling in einem Raum schlafen. In den ersten Lebenswochen kann man dann die letzte Mahlzeit etwas später, um 23 Uhr, und die erste früher, zwischen 4 und 5 Uhr morgens, geben. Allmählich rückt man beide Mahlzeiten weiter auseinander bis zum normalen Zeitpunkt. Dadurch wird die Nachtruhe von Mutter und Kind zwar etwas verkürzt, aber es ist immer noch beser, als wenn nachts noch eine Mahlzeit eingelegt wird.
Kommt man auf solche Weise nicht zum Ziel, so darf auf ärztliche Verordnung abends im Anschluß an die letzte Mahlzeit ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben werden. Nach 2-3 Tagen wird die Nachtpause in der Regel auch ohne dieses eingehalten. Beruhigungsmittel dürfen niemals über längere Zeit gegeben werden."
und später:
"Jede Mutter, aber vielleicht auch mancher Vater, wird noch mit einem leichten Schauder an die Zeit zurückdenken, als ds Erstgeborene zum erstenmal seinen Willen durch langanhaltendes Geschrei der Umwelt mitteilte. Schon von früh an kommt es zu Kraftproben zwischen mütterlichem und kindlichem Willen. Selbstverständliche sind auch die Kinder in dieser Hinsicht verschieden veranlagt. Ein Kind ist eigenwilliger als das andere. Aber immer muß der mütterliche Wille bei aller Liebe und Fürsorge für das Kind von Anbeginn seines Lebens die Oberhand behalten. Der Säugling kann ja noch gar nicht die nötige Einsicht dafür haben, was gut oder schädlich für ihn ist. Daher ist es ganz falsch, wenn die Mutter sich dem Willen des Kindes unterordnet mit dem Bemerken, mein Kind mag das nicht, mein Kind will dieses oder jenes nicht tun. Niemals soll das Kind mit Gewalt zu etwas gezwungen werden, was nur seinen Trotz hervorruft. Aber die Mutter soll sich andererseits durch eigensinniges Geschrei von dem nicht abbringen lassen, was sie für richtig hält."
Werner Catel selber schrieb unter anderem Lehrbücher für Säuglings- und Kinderkrankenschwestern. Das Bild des unerfahrenen Kindes, das nicht weiß, was gut für es ist, verbreitete er hier auch.
"Im Gegensatz zu der in manchen Ländern herrschenden Ansicht, z.B. der in den Vereinigten Staaten verbreiteten Lehre des 'self-demand-feeding' haben wir die Meinung, daß (hauptsächlich bei der Nahrungsaufnahme) nicht die Wünsche des noch unerfahrenen Kindes das Handeln der Eltern bestimmen dürfen, sondern daß das Kind von Anbeginn an liebevoll, aber konsequent geführt werden und frühzeitig lernen soll, sich dem Willen und den Anordnungen des Erziehers einzufügen."
Die Pflege des gesunden und kranken Kindes - zugleich ein Lehrbuch der Ausbildung zur Säuglings- und Kinderkrankenschwester, Prof. Dr. med. Werner Catel, 8. Auflage 1964
Während also 1964 in den USA schon das Stillen nach Bedarf gefördert wurde, hielten deutsche Autor'innen und Ärzte uns zurück. Ärzte wie Catel, der erst 1960 nach öffentlichem Druck frühzeitig emeritiert wurde. Es war herausgekommen, dass er zur Nazi-Zeit an der Euthanasie von Kindern beteiligt gewesen war. Noch in den 1960ern befürwortete er die Tötung geistig behinderter Kinder.
Es ist kein Wunder, dass Schlaflernprogramme wie das von Ferber bei uns so gut Fuß fassen konnten. Es ist kein Wunder, dass mit Tricks wie Brei in der Flasche oder Beruhigungsmitteln versucht wurde, die Kinder zum Durchschlafen zu bringen. Denn von den grundsätzlichen Ideen von Regelmäßigkeit und Unterordnung sind wir nicht weg gekommen, sondern nur von den Extremen, wie das Kind die ganze Nacht hindurch nicht zu beachten.
Bis ein neuer Wind wehen konnte, mussten wir erst mal das Alte abstreifen. Und das hat erschreckend lange gedauert. Wir arbeiten mitunter noch heute daran.
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