Schon vor der Geburt hat ein Baby Schlaf- und Wachphasen. Schlafen an sich ist daher nichts, was gelernt werden müsste. Und dennoch gibt es sogenannte Schlaflernprogramme. Warum?

Was Babys mit den Schlaflernprogrammen beigebracht werden soll, sind das Einschlafen ohne Hilfe anderer Menschen und das Durchschlafen in der Nacht. Das entspricht zwar weder dem sozialen Bedürfnis noch den physiologischen Anlagen von Babys. Dennoch wird von vielen Menschen bis heute sehr viel Wert auf beides gelegt. Dieser Wert beruht auf einer kruden Vorstellung von Selbständigkeit und der vermeindlichen Notwendigkeit geregelter Tagesabläufe. 

Selbständige Babys?

Ein Baby ist nicht selbständig, nur weil es beim Einschlafen nicht die Anwesenheit einer Betreuungsperson braucht. Es macht der betreuenden Person nur weniger Arbeit, weil sie nicht in unmittelbarer Nähe des Babys sein muss. Das Baby selbst hat jedoch keinen direkten Vorteil davon.

Vielfach herrscht noch die Vorstellung, Kinder würden so manche Dinge niemals lernen, wenn sie ihnen nicht beigebracht würden, und das Einschlafen ohne Hilfe wird oft als eines dieser Dinge gesehen. Da ist einfach eine Angst vorhanden, das Kind würde die Einschlafhilfe so lieb gewinnen und sich so sehr daran gewöhnen, dass es sie nie freiwillig aufgeben würde. Ähnliches dachten die Leute früher vom Krabbeln und Laufenlernen.

Doch das "nie" ist hier sicher eine Überteibung. Kaum ein Mensch wird wirklich denken, dass er selber noch bei seinen Eltern im Bett schlafen würde, wenn diese ihn nicht als Baby daraus verbannt hätten. Vielmehr soll dieses "nie" ausdrücken, dass es so lange andauern wird, dass die Eltern ans Ende ihrer Kräfte kommen werden. Es ist also eine vorbeugende Maßnahme. Lieber soll das Kind jetzt zurückstecken, solange es noch klein und viel leichter formbar ist, als später die Eltern. Da sich das Baby ja später nicht daran erinnern wird, sei das Schreien und Weinen angeblich auch nicht so tragisch.

Gewohnheit vs Geborgenheit

Verfechter*innen von Schlaflernprogrammen behaupten gerne, alleine einschlafen zu können, wäre ein wichtiger Schritt dahin, das Baby zu befähigen in der Nacht durchzuschlafen. Sie sagen, Babys könnten nur dann ruhig wieder einschlafen, wenn sie beim Aufwachen dieselben Umstände wiederfänden wie beim Einschlafen. Bei genauerer Betrachtung ergibt dies keinen Sinn.

Zum einen ist darin das Eingeständnis enthalten, dass die Kinder nachwievor in der Nacht aufwachen und halt nur ohne sich zu melden wieder einschlafen. Sie schlafen also gar nicht wirklich durch. Es wurde ihnen nicht das Durchschlafen, sondern nur das Stillsein beigebracht.

Zum anderen wird ein Baby, das allein aufwacht, nachdem es beim Einschlafen begleitet wurde, zwar oft nach seiner primären Betreuungsperson rufen. Umgekehrt wird es sich aber, wenn es allein im Bett eingeschlafen ist und beim Aufwachen seine primäre Betreuungsperson neben sich findet, wohl kaum über deren Anwesenheit beschweren. Anders ausgedrückt: ein Baby muss zum Weiterschlafen keineswegs dieselben gewohnten Umstände vorfinden. Es muss sich nur wohlfühlen. Dazu gehört auch, dass es sich sicher fühlt.

Laut den Verfechter*innen der Schlaflernprogramme soll ein fester Rhythmus dem Kind Verlässlichkeit und somit Sicherheit bieten. Sicherheit bietet aber schon allein die Anwesenheit einer verlässlichen Betreuungsperson, zu der das Kind eine gesunde Bindung hat. Der Rhythmus ist da nebensächlich und entwickelt sich mit der Zeit.

Schlaflernprogramme basieren auf der Forderung, dass sich das Baby in das Leben der Erwachsenen einordnen solle. Dabei schwingt eine gewisse Angst vor dem Verwöhnen mit, aber vor allem dominiert da die Sicht aufs Baby als ein defizitäres Wesen, das nicht wissen könne, was gut für es ist. Es wird kaum darauf geachtet, was das Baby wirklich braucht. Der Fokus liegt darauf, welche Maßnahmen ergriffen werden müssten, damit das Baby sich anpassen kann. Es geht also in Wahrheit um die Bedürfnisse der Eltern, nicht die des Kindes. Darum gibt es Schlaflernprogramme bis heute. 

Wo kommen Schlaflernprogramme her?

Bis in die 1980er Jahre hinein war es gängige Lehrmeinung, dass Kinder und auch Babys einen geregelten Tagesablauf bräuchten, um gesund aufwachsen zu können. Dabei ging es um feste Zeiten bei der Nahrungsaufnahme und eben auch beim Schlafen. Wo diese Annahmen her kamen, habe ich bereits erläutert, z. B. hier im Bezug aufs Stillen oder hier im Bezug aufs Schlafen.

Noch bis in die 1960er wurde Eltern hierzulande geraten, ihre Kinder nachts einfach in ein entlegenes Zimmer zu verfrachten, und ihr Weinen komplett zu ignorieren. Dass kleine Babys auch andere Bedürfnisse als "satt und trocken zu sein" haben könnten, war eine Erkenntnis, die sich erst langsam aus den USA kommend bei uns verbreitete. In den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg wurde sämtliche Energie im Privaten in den Wiederaufbau gesteckt. Für Neues waren erst mal keine Kapazitäten da. Es entstand eine Lücke, die erst nach und nach aufgefüllt werden konnte. Das galt insbesondere für die Pädiatrie und die Kinderpsychologie. So lehnten deutsche Ärzt*innen beispielsweise das Füttern nach Bedarf noch bis in die 1970er ab, während es in den USA bereits in den 1960ern etabliert war.

In den USA gab es durch den erfolgreichen Ratgeber des Arztes Benjamin SpockThe Common Sense Book of Baby and Child Care, der 1946 erschien, schon früh Stimmen gegen die rigiden Pflege- und Erziehungsvorschriften, die sich bis dahin ja nicht nur bei uns durchgesetzt hatten. Spocks Werk galt als revolutionär, indem er den Müttern versicherte, dass sie die Expertinnen für ihre eigenen Kinder seien. Das entsprach noch lange Zeit nicht dem Mainstream. Aber auch Spock legte Wert auf geregelte Tagesbläufe. Nur ging er dabei weniger nach der Uhr, als dass er auf Rituale und Gewohnheiten setzte.

In den 1970ern entwickelten Ärzte in den USA die ersten Schlaflernprogramme. Darunter waren Marc Weissbluth und der bei uns bekanntere Richard Ferber. Auch sie unterlagen dem Glauben, dass ein fester Rhythmus und das Durchschlafen für Babys wichtig seien. 1985 erschien Ferbers Buch Solve Your Child's Sleep Problems, das die Grundlage für das 1995 erstmals veröffentlichte Jedes Kind kann schlafen lernen von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth bildete.

Auch hier dauerte es also rund 20 Jahre, bis eine Neuerung uns aus den USA erreichte. Das "kontrollierte Schreienlassen" ist im Vergleich zum Schreienlassen durch die ganze Nacht wohl auch als Fortschritt zu werten. Aber Mitte der 1990er gab es bereits Forschung zum sicheren Co-Sleeping. Und bis heute gibt es kein deutschsprachiges Äquivalent zu englischsprachigen Ressourcen über Babyschlaf wie basisonline.org.uk.

Wenn Schlaflernprogramme aber 50 Jahre alt sind und wir längst besser Bescheid wissen über Babyschlaf und Babys Bedürfnisse, warum gibt es sie dann noch? 

Hat Ferber widerrufen? 

Immer wieder taucht die Behauptung auf, Richard Ferber hätte sich von seinem Schlaflernprogramm distanziert. Das stimmt so nicht. Die Behauptung ist zurückzuführen auf einen Artikel im New Yorker von 1999. Der Journalist John Seabrook hatte Richard Ferber interviewt und in seinem Artikel geschrieben: "he recanted." ("Er hat widerrufen") Genau genommen hat Ferber aber nur den Teil seines Buches widerrufen, in dem er das Co-Sleeping ablehnt und behauptet, es sei für Babys (und alle Menschen) wichtig, alleine zu schlafen. Er gestand, dass er das damals einfach aus der üblichen Literatur übernommen hatte. Heute sagt Ferber, was immer für die Familie als Schlaf-Arrangement funktioniere, sei gut. Für unzufriedene Eltern jedoch gibt es noch immer seine Methode. Solve Your Child's Sleep Problems wurde zuletzt 2006 neu aufgelegt. Wie diese sich von der Erstausgabe unterscheidet, zeigt dieser Artikel (auf Englisch). Das Schlaflernprogramm ist jedenfalls noch drin.

Was Marc Weissbluth angeht, so führt sein Sohn Daniel die Weissbluth Methode weiter fort. Er behauptet, es sei ein Mythos, dass Co-Sleeping sicher sei, ist stolz darauf, mit den Eltern seiner kleinen Patient*innen bei jeder Vorsorge-Untersuchung ("well visit") übers Schlafen zu sprechenund setzt auf Routine ab der Geburt.

Auch hierzulande hören wir immer wieder von Ärzt*innen, die in ihrer Sprechstunde Schlaflernprogramme bewerben und das Co-Sleeping verteufeln. Jedes Kind kann schlafen lernenist nachwievor über den Buchhandel und in Bibliotheken erhältlich. Es gibt online immer mehr Angebote von "Schlafcoaches". Dazu kommen die gesellschaftlichen und innerfamiliären Erwartungen, welche Druck auf die Eltern ausüben, das Kind doch nun endlich mal zum Durchschlafen zu bringen. Das sei doch so wichtig!

Die Eltern sind nicht Schuld.

Es wundert daher nicht, dass Eltern auch heute noch Schlaflernprogramme ausprobieren und auch durchziehen, selbst wenn sie ihnen selbst widerstreben. Und bei manchen Babys funktionieren diese Methoden ja auch. Sie protestieren nur kurz gegen die ungewohnte Einschlafsituation, aber geben sich schnell zufrieden und schlafen dann tatsächlich mit weniger Unterbrechungen. Ein Schlaflernprogramm führt nicht unweigerlich zu traumatisierten Kindern. Nicht zuletzt, weil auch der sonstige Umgang mit dem Kind eine wichtige Rolle spielt.

Die grundsätzliche Idee vom "kontrollierten Schreienlassen" ist jedoch eine Form des Behaviorismus und schon allein deshalb abzulehnen. Babys sind vollwertige Menschen, die wir dementsprechend behandeln sollten. Sie sind weder defizitär, noch ist ihre Erziehung ein Dressurakt. Ihr Weinen ist ein Hilferuf, der absolut ernst zu nehmen ist. Sie dabei alleine zu lassen, sollte nicht absichtlich und nach Plan geschehen.

Was wir daher brauchen, ist Aufklärung über die Ursprünge und Folgen von Schlaflernprogrammen (wozu dieser Blogpost beitragen möge), sowie Rückenstärkung für Eltern, bevor sie überhaupt in Versuchung kommen, eines anzuwenden. Das erreichen wir mit der Verbreitung von Informationen über physiologischen Babyschlaf und sicheres Co-Sleeping. Das ist mühsam und aufwendig, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Zusammen können wir es schaffen.